„Vor dem Entschwinden“ im RLT-Studio: Suche nach der Tür am Ende des Lebens
18. Februar 2020 | Von Stuckstaette | Kategorie: Aktuelles, Neusser KulturAlle wissen es und doch wird es meist verdrängt: Das Leben ist endlich. Mit dem Alter ist es da, „plötzlich“, das Bewusstsein über den nahenden Tod. Bei den Betroffenen macht es sich breit, beim Partner – genauso wie bei den Nachkommen. Demenz, Einsamkeit, Krankheit: Das Leben kann nicht mehr gemeistert werden. Und als käme es unvermittelt, muss rasch Handhabe her. Zur Sicherung von Leib und Wohl; Haus, Grund und Vermögen. Muss? Doch was entschwindet mit wem – für wen? „Vor dem Entschwinden“ des erfolgreichen französischen Gegenwartsautors Florian Zeller betrachtet die letzte Phase des Lebens aus verschiedenen Perspektiven der Familie. Nicht chronologisch, sondern in parallelen Handlungen und in der Tradition des absurden Theaters Frankreichs der 50er Jahre. In deutscher Erstaufführung ist das Stück jetzt im Rheinischen Landestheater zu sehen. Eine kluge, anregende Form, im Geleit des Todes den Blick aufs Leben zu richten.
Mitten im stärksten Sturm gibt es stets einen Vogel, der uns Zuversicht schenkt. Es ist der unbekannte Vogel. Der, der vor dem Entschwinden singt.“ Sätze von Réné Char, die sich in Zellers Stück platzieren. Es ist der Sturm, der aufheult, bevor das weltliche Leben erlischt. Ein Sturm in den Seelen aller Beteiligten. Einer, der Halt wie Zuversicht aufwirbelt.
50 Jahre sind sie zusammen, Madeleine und André. Jetzt ist ihre gemeinsame Zeit fast um. Das Alter hat sie im Griff, ihn noch mehr als sie. Er war sehr klug, wird verehrt. Seine Bücher und Schriften finden großen Anklang. Sie ist sein ruhiger Pol. Ihre Liebe zum Garten, zu den Blumen und ihre Kochkünste – sie ist feinsinnig und geistreich wie er. Sie lieben sich. Haben sich immer geliebt. Aber jetzt stehen sie wissend vorm Ende, denken an den Tod und das Danach. Und ans Leben, an das, was ist und war.
Auch ihre zwei erwachsenen Töchter Anne und Élise machen sich Sorgen. An einem Wochenende reisen sie an, um die Dinge zu klären. Man kann die Eltern nicht mehr alleine lassen, schon gar nicht einen allein, davon sind sie überzeugt. Es soll ja irgendwie sicher weitergehen. Weiter? Doch die Alten wollen nicht „geregelt“, rausgerissen oder entmündigt werden. Sie wollen daheim in ihrem Haus bleiben – bei ihren Erinnerungen.
Philosophische Betrachtung am Alltagsgeschehen
„Avant de s’envoler“ (Originaltitel) ist ein raffiniertes Stück, das grundsätzliche Fragen zum Entschwinden stellt – in körperlicher, geistiger wie emotionaler Hinsicht. Dazu nutzt es absurde Strukturen, verwebt Vorahnung, Erinnerung und Verlaufsvarianten miteinander und lässt mögliche Geschehen nebeneinander laufen. Mag das den Zuschauer erst verwirren, so greift es doch schnell. Familienwochenende, Tod der Mutter oder des Vaters, Begegnung des alten Paares, Gegenwart oder Rückschau, Realität oder Imagination – sie alle verschwimmen zur Betrachtung im stetigen Perspektivwechsel. Was wäre, wenn? Gibt es eine Tür und etwas dahinter? So philosophisch sich der Ansatz zeigt, so weltlich baut sich das Spiel. Dialoge, die man zu kennen scheint. Die Sorgen des Alltags, klassische Familienkonflikte, Zwist zwischen Eltern und Kindern wie zwischen Geschwistern. Dazu ein Blick aufs Alter, der sich gefühlvoll auf mannigfaltige Merkmale richtet. Wenn sich Wissen in Demenz wandelt, Leidenschaft in Zärtlichkeit, Liebe in Zuflucht, Abwehr in Sturheit oder Wut in Trotz. Schon allein deswegen lohnt der Besuch der Vorstellung.
Verwischte Spuren im feinen Sand
Im Rheinischen Landestheater ist es Heiner Stadelmann, der mit seinem André den greisen Mann in aller Vielfalt ausleuchtet; und das in mitreißender Weise. Mag es das Brot sein, das kein Zwieback ist, und ihm wie selbstverständlich das Frühstück verdirbt. Oder das anteillose Ausklinken im Wohnzimmersessel. Aufbegehren und Kapitulation geben sich die Hand, wenn es zunehmend stiller und stiller wird, wenn Kraft und Fähigkeiten weichen. Ein leises Zusammensinken, ein Fallen, auch Zerfall. Am Ende klafft die Hilflosigkeit. In seinem Spiel spiegelt sich das Leben; immer wieder anders gespeist von den Akteuren rundherum. Und der Zuschauer wirbelt – trotz des langsamen Plots – mit ihm umher. Bis sie abtreten, die anderen, und nur André bleibt. Mit seinem letzten, selbst gewählten Mahl.
Eine Inszenierung vor und hinter Plexiglas auf weißem Sand, in dem der wandelnde Tod die Spuren des Lebens einharkt. Wohin sie reden oder mit wem, das spielt hier nicht die entscheidende Rolle. Ihre Suche, die zu der der Zuschauer wird, ist der gekonnte Schachzug. Mit dem Ziel – nicht nur die Gewissheit oder die Wahrscheinlichkeit – loszulassen. Ein rührender Abschied. Eine eindringliche wie beklemmende Inszenierung. Ansehen lohnenswert!