Interview mit der künstlerischen dkn-Leitung Isabelle van Keulen: Gelernt, geduldig zu sein
5. Juni 2019 | Von Stuckstaette | Kategorie: Aktuelles, Neusser KulturSie konnte Noten schreiben, bevor sie sich mit dem ABC beschäftigte. Die Blockflöte war ihr zu langweilig. Das Spiel auf der Geige empfand sie nie wirklich zu schwer. Auch wenn sie schon früh diszipliniert üben musste, für das, was sie heute so gefühlvoll wie meisterhaft auf die Bühne bringt. Isabelle van Keulen ist eine begnadete Künstlerin, eine Streicherin, die sowohl mit der Geige wie mit der Bratsche auf dem Konzertpodium internationalen Zuspruch findet. In den vergangenen zwei Jahren war sie als „Artist in Residence“ für die künstlerische Leitung der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein verantwortlich. Jetzt ist sie für die kommenden drei Spielzeiten fest engagiert. Wir wollten wissen, welcher Charakter sich hinter dieser schillernden Musikerin verbirgt.
Es muss nicht immer die erste Geige sein, die sie spielt. Ihr gefällt auch, die Mitte mit der Bratsche auszuloten. Nicht, weil es sie stört, den Ton anzugeben. Aber die Vielfalt und die Varianz, die haben es der charismatischen Niederländerin angetan. „Wie kann man Musik einem Menschen beschreiben, der nicht hören kann?“, Isabelle van Keulen fehlt die Antwort. „Musik kann man nicht in Worte fassen.“ Sie sei Gefühl, Stimmung, etwas unglaublich Schönes. Ein Gespür tief in einem drin. „Wenn Menschen glücklich aus einem Konzert kommen, dann wirkt Musik.“ Wir sitzen am Wohnzimmertisch des Orchestermanagers der Deutschen Kammerakademie Neuss. Er hat uns freundlicherweise sein Domizil als Interviewstätte angeboten. Denn die Zeit von Isabelle van Keulen ist knapp bemessen. Gerade kommt sie aus Den Haag, hat rund eineinhalb Stunden Zeit, dann geht es weiter nach Oslo, wo sie drei Tage ihr Wissen an junge Musikerinnen und Musiker vermitteln wird. „Musik ist etwas Emotionales“, sagt sie, „und eine Kunstform.“ So schnell gibt sie nicht auf, auch wenn die Frage für sie nicht zu beantworten ist. Sie lächelt und ergänzt: „Eigentlich sind es ja nur 12 Töne.“ – Und so gesehen, hört es sich fast simple an. Vielleicht eine Erklärung dafür, warum van Keulen schon mit 3 Jahren nicht scheute, sich in Musik zu vertiefen. „Mein Vater war Maler, Kunst lag bei uns in der Luft. Meine Schwester spielte Flöte, dann habe ich die auch mal ausprobiert.“ Aber die Faszination für das Instrument hielt sich in Grenzen: „Mit Blockflöte kann man eh nichts anfangen.“ Sie lacht. Und erklärt damit schon einiges über ihren Antrieb: die Herausforderung.
Getaktet für den perfekten Takt
So kam sie zur Geige. Da war sie 6 Jahre alt. Sicher, sie sei auch hin und wieder dran verzweifelt. „Am Anfang ging das spielerisch los. Aber als ich den ersten Wettbewerb gewonnen hatte, da kamen von allen Seiten die Angebote angeflogen.“ Und von ihrer Mutter eine klare Ansage: „Wut: ja – Dinge kaputthauen: nein!“ Das war die Zeit, als der Nachbarsjunge seinen Geigenbogen zerlegte. Da wohnte sie noch auf dem Land und pendelte dreimal die Woche nach Amsterdam, um sich professionell ausbilden zu lassen. „Eineinhalb Stunden hin, eineinhalb Stunden zurück und zwei bis zweieinhalb Stunden üben am Tag, und das neben der Schule, das war schon fordernd.“ In der Tagestaktung, im Musikalischen wie in der Disziplin. „Manchmal habe ich schon aus Frustration gestampft und geschrien.“ Aber da war sie 12 Jahre. Da konnten schnelle Mittelteile sie noch aus der Ruhe bringen. Oder gar zum „Ausrasten“, wie die 52-Jährige gesteht. Temperament hat sie, das lässt sich nicht leugnen. Vom Sternzeichen ist sie Schütze, auch das verwundert nicht. „Puh Geduld, ich arbeite immer noch dran“, ergänzt die sympathische Künstlerin, die heute auf den großen internationalen Bühnen zuhause ist. Natürlich geht es nicht ohne. Genauso wenig wie ohne Struktur und Stringenz. Und die sind Teile ihres Wesens, wie ihre Leidenschaft. „Meine Mutter hat mir alle praktischen Sachen fern und mein Umfeld ruhig gehalten.“ Der Rest sei punktgenaue Taktung gewesen. Wie heute. „Das mag ich.“
Die Liebe zur Musik – und zum Garten
Heute in Den Haag, Neuss und Oslo, ein anderes Mal auch Prag, Melbourne oder Stockholm. Mal in der Düsseldorfer Tonhalle dann wieder in der Londoner Wigmore Hall. Ihre Termine sind mindestens ein halbes Jahr im Voraus geschnürt. Jeder Einsatz, jeder Auftritt minutiös abgestimmt. Jetzt bleibt uns noch eine Dreiviertelstunde bis zum Aufbruch zum nächsten Flieger. Schnell zwei Tassen Milchkaffee, ein Stück Kuchen – die Instrumente für Donnerstag sind schon abgestellt. Denn dann beginnen die Proben fürs Konzert am Sonntag im Neusser Zeughaus.
„Meine Mutter war ganz still“, erinnert sich van Keulen. „Sie hat alles wieder aufgeräumt.“ Beispielsweise, wenn der aktive Vater mit anderen Künstlern Neues ausprobierte und sich austauschte. Er war der exzentrische Teil des Paares. Kommt Isabelle van Keulen nach ihm? – „Hm, nicht nur.“ Bei ihrer Lebhaftigkeit und ihrer lockeren Gangart könnte man es vermuten. Aber: „Ich bin gern allein. Ich liebe Musik und ich liebe meinen Garten.“ Dort könne sie Stunden verbringen. Ein ruhiger Ort, in dem was passiert. Das sei für sie purer Genuss. „Ich bin ja immer wieder so ein Wöchlein weg und dann wieder da“, beschreibt van Keulen ihren Alltag. „Wenn ich zurückkomme, bin ich ganz begeistert, wenn da und dort plötzlich was Neues herausguckt oder neue Knospen auftauchen.“ Ihr Haus in London ist ihre Oase. In dieser Stadt leben auch ihre zwei Kinder, ihre 18-jährige Tochter und ihr 20-jähriger Sohn. Mit Musik haben beide nichts zu tun, der Ältere ist gerade Pilot geworden. Und dennoch haben ihre Urteile hohen Stellenwert. Denn: „Was meine Kinder sagen, ist unverfälscht, ehrlich und direkt.“ Und wenn sie fachliche Einschätzung sucht, überlässt sie diese ihrem Ehemann, dem Kontrabassisten Rüdiger Ludwig. Aber alles in allem müsse sie sich nicht spiegeln. Denn Isabell van Keulen weiß sehr genau, wo sie hinwill. Im Leben wie im Konzertsaal. Im Ensemble wie auf dem Lehrstuhl. Als Musikerin genauso wie als Orchesterchefin.
Charmant entschlossen, lebendig und klar
Mit Charakterstärke, Ausstrahlung und musikalischer Mannigfaltigkeit musizierte sie sich international nach oben; etablierte sich gleichermaßen als Geigerin und Bratschistin auf den bedeutenden Konzertpodien. Als Solistin konzertiert Isabelle van Keulen mit großen Orchestern, wie den Berliner Philharmonikern, dem Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchestra, dem NHK Symphony Orchestra Tokyo, dem London Philharmonic Orchestra, dem Helsinki Philharmonic Orchestra u.v.a. Zwischen 2009 und 2012 war sie Artistic Director des Norwegian Chamber Orchestra. Als Leiterin und Solistin unternahm sie neben den Auftritten in Oslo ausgedehnte Konzerttourneen, auch nach Asien. Persönlichkeiten wie Valery Gergiev, Philippe Herreweghe, Andris Nelsons, Sir Roger Norrington, Hugo Wolff und David Zinman zählen zu ihren Partnern am Dirigentenpult.
Auch wenn sie es gewohnt ist, sich unter hochrangigen Musikern aufzuhalten, Genialität ist nicht ihr erstes Kriterium bei der Zusammensetzung eines Orchesters: „Mir ist der Musiker, der an sich arbeitet, lieber als ein unerträgliches Genie.“ Diskussionen in den Reihen des Orchesters sind unter ihrer Leitung erlaubt. Doch zu heftiges Quatschen in den Pausen, wenn sie unterbricht – und das mache sie oft – das muss nicht sein. Unruhe störe die Proben, davon trage sie ausreichend in sich. Denn Schnelligkeit und Unrast gehören zu ihrem Charakter. Wie eben die Struktur. Und die Vielfalt. „Nicht nur das eine tun, das finde ich super.“
Mit Leidenschaft für die Kammermusik
Die Farbigkeit ihrer verschiedenen Einsatzbereiche, Funktionen und ihres Programmes hat sie bewusst gewählt. „Nur Geige spielen, nur mit dem Geigenköfferchen unterwegs, das wäre mir zu klein, zu eng. Das habe ich von meinem Vater.“ Sie ist auf vielen Wegen unterwegs, beherrscht ein großes Repertoire vom Barock über die Klassik und die Romantik bis zur Neuen Musik – und „wildert“ gern auch in anderen Genres. Ein Schwerpunkt ihres künstlerischen Schaffens ist die Kammermusik. 1997 gründete sie das Delft Chamber Music Festival, das sie als künstlerische Leiterin bis 2006 prägte. Mit dem Pianisten Ronald Brautigam verbindet sie eine dreißigjährige Zusammenarbeit. Eng verbunden ist sie ebenso mit der Mezzo-Sopranistin Christiane Stotijn und der Klarinettistin Sharon Kam. Zudem interpretiert sie gern zeitgenössische Werke. Erkki-Sven Tüür widmete ihr ein Violinkonzert, das sie mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Paavo Järvi einspielte. Seit Herbst 2012 ist sie Professorin für Violine, Viola und Kammermusik an der Hochschule für Musik Luzern. Und ab der Saison 2019/20 nun auch – nach zweijähriger musikalischer Orchesterleitung als Artist in Residence – fest auf dem Führungsstuhl der dkn. Gemeinsam mit dem neu ins Amt berufenen Chefdirigenten Christoph Koncz tritt sie nun für mindestens drei weitere Jahre an, die Deutsche Kammerakademie Neuss auf Erfolgskurs zu halten. Denn, dass sie ein Händchen dafür hat, den Streicherklang kunstvoll zu formen und zu verfeinern, um Brillanz zutage zu bringen, hat sie schon bewiesen. Nun geht es erneut auf Entdeckungstour.
Eineinhalb Stunden sind um. Ihr Tag ist noch nicht zu Ende, die Reise, sie geht weiter. Ihr Esprit klingt aber noch nach: „Bei Musik gibt es kein Richtig, kein Falsch“, hatte sie betont. „Musik ist Sinnlichkeit und Ehrlichkeit.“ Ein kritisches Umfeld fände sie nicht verkehrt: „Man braucht es schon.“ Dann ein Lachen, und die humorvolle Ergänzung: „Man muss ja nicht immer hinhören.“ Die Wahl hat sie. Wir nicht – nicht, wenn ihre Musik erklingt. Dann öffnet sich ein Sinn für die Sinnlichkeit. Unweigerlich.