Alltäglicher Selbstbetrug: „Biedermann und die Brandstifter“ im Rheinischen Landestheater

6. November 2018 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Man kann wegsehen. Auch wenn die Katastrophe direkt vorm Auge liegt. Unausweichlich. Man kann protestieren. Aber das kostet Mut. Viel Mut. Auch Zivilcourage. Gottlieb Biedermann sieht lieber weg. Ein Aufrührer hat sich bei ihm eingenistet und plant, Häuser anzuzünden. Die Brandfässer liegen schon im Keller bereit. Was tun? – Gottliebs Antwort ist deutlich: Er verklärt die Wirklichkeit. Sie ist ihm zu bedrohlich; seine Angst, ins Visier zu geraten, zu groß. So macht er sich klein, duckt und buckelt sich, mit der Hoffnung seine Haut zu retten. „Biedermann und die Brandstifter“ ist eines der bekanntesten Theaterstücke von Max Frisch. Seine skurrile, beunruhigende wie aberwitzige Klarheit verschaffte ihm hohe Präsenz auf deutschen Bühnen; und im Unterricht. Ein Stoff, allzeit und allerorts einsetzbar. Heute gerade wieder mehr denn je. So sieht es auch Reinar Ortmann, der das Werk unter Beziehung auf aktuelle politische Entwicklungen für seine erste Premiere als RLT-Intendant aufgreift.

Gottlieb Biedermann ist ein Rechtschaffender. So zumindest meint er. Schließlich ist er anständig, verdient sein Geld redlich und, und das will ihm erst einmal jemand nachmachen, nimmt sogar einen Obdachlosen auf. Nun gut, dieser nistet sich eher aufdringlich frech und unwillkommen bei ihm ein. Er hat kein Geld, aber dafür eine große Klappe; und Überzeugungskraft. Ein polemischer selbstverliebter Wichtigtuer mit übersteigertem Selbstbewusstsein. Ein problematisches Gegenüber für Herrn Biedermann. Der lässt sich beschwatzen, nimmt ihn auf und bewirtet ihn. Zwar ist ihm nicht wohl dabei. Vielmehr sucht er den Weg des geringsten Übels. Denn sich mit so einem kräftig muskulären wie latent aggressiven Straßenkämpfer anzulegen, scheint ihm nicht ratsam. Schon allein um die eigene Haut zu retten.

Jeder ist sich selbst der Nächste

Was bedeutet da schon Überzeugung? Kühlen Kopf bewahren, hält Gottlieb für klug. Nächstenliebe ist es nicht. Mehr die Liebe zu sich selbst. Was kümmert einen der Rest. Ihn interessiert die Welt vor seiner Haustür nicht. Zwar geht der Feuerteufel in der Stadt umher und alle fürchten, ihr Haus könnte das nächste brennende sein, aber Gottlieb Biedermann bleibt gelassen. Noch hat er doch alles unter Kontrolle mit seinem freundlich solidarischen Verhalten.

Ignoranz als Schutzschild, die Tat ohne Verantwortung. Es wird schon alles gutgehen. Was kann der Einzelne schon tun? Das kommt einem bekannt vor. Wegsehen und Raushalten ein weit verbreitetes Phänomen. Da sollte man mal dran rütteln, meint Rainer Ortmann. Gerade im Hinblick auf den Rechtsruck in unserer Gesellschaft. So wählt er bewusst dies Lehrstück ohne Lehre, setzt der subtilen Parabel on top auch formal gestreng die Klarheit auf. Hier gibt es keinen Weg rundherum: Der systematische Selbstbetrug führt unweigerlich in die Katastrophe. Jeder kann es sehen; mag sich die Haare raufen. Kaum kann man es ertragen, wie naiv, engstirnig, extrem verbohrt Herr Biedermann durchs Werk wandelt. Im Theater fast eine Qual. In der Welt seltsamerweise fast alltäglich.

Der Ignorant als Mittäter

Das schafft die Inszenierung in ein absonderliches Licht zu setzen. Ohne Tamtam. Wir sind im Nirgendwo und Überall. Das ist das Faszinosum dieses Werkes. Und das Erschreckende zugleich. Reinar Ortmann setzt den Gedanken von Max Frisch noch die Kappe auf: Den Chor der Feuerwehrleute, der Gottlieb Biedermann fortwährend und vehement warnt, ersetzt er durch einen Chor der Brandstifter selbst, als self-fulfilling prophecy.

Die Ewigkeit steht da. Genug Zeit zu reagieren. Warnungen, wohin man sieht. Und Zeitzeugen. Nichts ist zu übersehen. Noch nicht mal die ruinöse Dummheit. Schon daher will man sich abdrehen. Fässer rollen im Keller. Hin und her. Lange. Sonst nichts. So blind kann man nicht sein. Herr Biedermann schon. Bis die Häuser brennen. Die rundherum. Und schließlich alle.

Marion Stuckstätte