Dürrenmatts „Die Physiker“ im RLT: (Fort-)Schritt in die Zerstörung
3. November 2017 | Von Stuckstaette | Kategorie: Aktuelles, Neusser KulturEs ist ein kluges Stück, das Friedrich Dürrenmatt 1962 geschaffen hat. Auf der Grundlage der ersten Atombombenabwürfe stellt er die Frage nach der Verantwortung. Wer ist schuld – der, der die Atomspaltung entdeckte, der, der sie weiterentwickelte oder jene, die die „Ausreifung“ nutzen? Oder alle? Bei ihm ziehen die Physiker die Konsequenz aus der drohenden Gefahr und begeben sich in die Irrenanstalt, um ihre brisanten Forschungsergebnisse nicht der Menschheit preisgeben zu müssen. Damit sich diese nicht selbst zerstört. Aber es ist schon zu spät. Dürrenmatt nennt sein Werk eine Komödie, auch wenn es eigentlich eine Tragödie darstellt. Im Rheinischen Landestheater ist sie derzeit unter der Regie von Reinar Ortmann zu sehen.
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“ Lassen wir das einfach erst so stehen. Zumindest am Anfang. Denn da muss man sich in Dürrenmatts „Irrenhaus“ erst einmal zurechtfinden:
Ein Mord. Nein, sogar schon der zweite. An einer Krankenschwester der Anstalt. Ein Inspektor, der darüber verzweifelt. Denn man weiß, er und alle wissen, wer es war. Dieses Mal war es Ernesti. Ein Irrer, einer, der sich für Einstein hält. Mit einer roten Krawatte hat er seine Betreuerin erdrosselt. Jetzt geigt er, um sich zu beruhigen und – so beteuert die letzte, rigorose Schwester im Haus – darf nicht gestört werden. Denn er ist kein Mörder, sondern ein Kranker. Keiner, den man verurteilen darf, sondern einer, der Hilfe braucht. Eine vertrackte Situation für Inspektor Voss (gespielt von Andreas Spaniol). Seine Handlungsunfähigkeit in dieser Anstalt, die die Welt ad absurdum stellt, bringt ihn fast selbst um den Verstand. Auch die Begegnungen mit den Insassen und Obrigkeiten. Da wäre noch Beutler, gespielt von Stefan Schleue, der sich für keinen weniger als Newton hält. Er hat zwei Wochen zuvor genau die gleiche Straftat begangen, an seiner Krankenschwester. Mit einer gelben Krawatte. Viel mehr Menschen sind schon nicht in diesem Trakt der Einrichtung zu finden. Nur noch die Anstaltsleiterin Fräulein Doktor von Zahnd und als Dreh- und Angelfigur des Stücks: Möbius (Philipp Alfons Heitmann). Auch ein Physiker, sogar ein echter. Aber einer, der sich wahnsinnig stellt, damit er die Menschheit vor seinen Entdeckungen schützt. Er hat die Weltformel gefunden, mit der sich alles regeln – und die Welt auslöschen lässt. Noch hat er keine Krankenschwester auf dem Gewissen. Nur seine Forschungsergebnisse. Doch wie bei den anderen verliebt sich seine Pflegerin in ihn und muss geopfert werden, weil sie der „Wahrheit“ auf die Schliche kommt. Das Risiko ist zu groß, die Gefahr für die Menschheit zu bedrohlich. Was macht da ein Mord, wenn es um die Sicherheit der Welt geht?
Suche nach den wahren Irren
Auch das lassen wir hier einfach mal so stehen. Es ist eine Komödie, sagt Dürrenmatt. Auch das. Hier ist nicht alles so, wie man es kennt. Es wendet und wandelt sich. Die Auftritte, die Berufungen. Sogar die Stückkonfiguration. Im zweiten Akt hat Inspektor Voss dazugelernt. Es geht um die Befragung zum dritten Mord, den von Möbius. Der Inspektor ist jetzt ein anderer. Er lässt sich nicht mehr durch die „Irren“ einschüchtern, sondern verkehrt das System. Er hat die Ordnungsprinzipien der Irrenanstalt akzeptiert und nutzt sie für sich. Er hat den „Wahnsinn“ begriffen, spielt mit – und lenkt ihn obendrein. Jetzt ist es Fräulein von Zahnd, die ihre Überlegenheit verliert; in diesem Moment gegenüber dem Inspektor. Denn am Ende trumpft sie noch mal vor ihren Insassen auf. Die outen sich untereinander und verbünden sich gar zum Schutze der Weltbevölkerung. Denn Newton und Einstein sind eigentlich Spione rivalisierender Machthaber, die auf die geniale Entdeckung von Möbius angesetzt wurden und sie rauben wollten. Doch sie werden von Möbius bekehrt. Allerdings bringt das der Menschheit wenig, Fräulein Doktor von Zahnd hat längst die Weltformel kopiert… Denn: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
Anpassung statt Widerstand
Hier haben wir es: Dürrenmatts ironische Empfehlung von Anpassung statt Widerstand als Kritik an einer Gesellschaft, die sich vor der Verantwortung drückt.
Da mag ein Lachen nicht wirklich aufkommen. Aber ein Gruseln stellt sich im RLT auch nicht ein. Denn Reinar Ortmann geht kühl, gestrafft und minimalistisch ans Werk. Er verlässt sich auf die Worte Dürrenmatts; öffnet die Gedanken nicht in die Welt, sondern lässt sie mehr an den weißen, sterilen Wänden des „Wahnsinns“ abprallen. Auch seine Darsteller halten sich in Emotionalität und Irrsinn bedeckt. Eine nüchterne Szenerie. Fast in sich geschlossen, „gefrostet“. Dennoch mag das „Geheimnis“ nach außen treten: Es ist nicht die Verantwortung der Physiker, um die es geht. Dürrenmatts Werk ist interessant, da es die Haltung eines jeden einzelnen hinterfragt. Denken des Denkens willen, handeln des Handelns willen, forschen des Forschens willen – Mensch sein, um sich im Menschensein selbstgerecht zu entfalten, kann es das sein?