Sensible Spurensuche im schwergewichtigen Stoff
7. Oktober 2015 | Von Stuckstaette | Kategorie: Neusser KulturSaisonstart mit „Joseph und seine Brüder“ im Rheinischen Landestheater
Es ist eine Geschichte von Hochmut, Unterwerfung und Gegenwehr. Joseph möchte der „Erwählte“ sein. Der, der mit dem Segen versehen, seinen Weg geht und für Höheres bestimmt ist. Doch am Ende ist es die eigene Tatkraft, die die sinnstiftende höhere Instanz entbehrlich macht. Das ist die humane und emanzipatorische Botschaft, die Thomas Mann in seiner Aufarbeitung „Joseph und seine Brüder“ aus der biblischen Geschichte zieht und der Ideologie seiner Zeit, dem Nationalsozialismus, entgegensetzt. Über 15 Jahre schrieb er an seinem Mammutwerk, das am Ende 1.600 Seiten in vier Romanen umfasst. John von Düffel hat es fürs Theater aufbereitet, 2009 kam es in Düsseldorf zur Uraufführung. Jetzt hat RLT-Chefin Bettina Jahnke das gewaltige Stück auf die Neusser Bühne gebracht. Ein spannender Abend, klug fokussiert und mit brillierenden Schauspielern, der ohne Proklamation gut auskommt.
Er ist nicht wie die anderen. Er war es nie. Joseph ist der Günstling seines Vaters. Nicht der Erstgeborene, aber der, der es versteht, sich gegen seine Brüder durchzusetzen und sich von ihnen abzuheben. Demut liegt ihm nicht. Einer von vielen zu sein, auch nicht. Geschickt wie er ist, gewinnt er zwar die besondere Zuneigung seines Vaters, doch erntet zugleich die Missgunst seiner Geschwister. So sehr, dass sie sich seiner entledigen wollen, ihn in einen Brunnen werfen und an reisende Händler verkaufen. Er ist verloren, seine Hochmut gebrochen. Scheint es. Doch zum Sklaven, Diener oder Gärtner ist er nicht geboren. Joseph ist wieder anders, ist belesen und beredt, dass er – wohin ihn auch sein Leidensweg führt – immer wieder hervorsticht. Schön, schlagfertig und scharfsinnig trotzt er allen Schicksalsschlägen und Erniedrigungen und „dient“ sich hoch, bis zum Stellvertreter des Pharaos. Im reichen Ägypten zu Amt und Würden gekommen, trifft er nach Jahren wieder auf seine Brüder, die wegen Missernten ins Land reisen, um Hilfe zu erbitten. Sie erkennen ihn nicht, bis er sich ihnen offenbart. Auf sein Verlangen und unter Druck bringen sie den Vater zum „verlorenen“ Sohn. Doch auch als dieser kommt und sieht, was Joseph erreicht hat, Wertschätzung gewährt er ihm nicht.
„Joseph und seine Brüder“ ist kein leichter Stoff, der sich von selbst auf der Bühne behauptet. Ihn von Komplexität und Schwermut zu lösen, aktuell zu gestalten und den Zeigefinger nicht zu gebrauchen, ein herausforderndes Projekt. Dennoch muss man sich nicht wundern, es unter der Regie von Bettina Jahnke hier zu sehen. Wem die Nibelungen ein Anliegen waren (Spielzeiteröffnung der Intendantin 2013/14), dem verlangt es quasi nach diesem Werk, das Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil 1943 fertigstellte und das vielerseits als Gegenstück zum Nibelungenlied, von den Nazis als Vehikel ihrer Ideen missbraucht, verstanden wird. Schon wie im Angang der Nibelungen-Saga, so konzentriert sich Jahnke auf den Mensch, filtert das eigene Zutun aus dem Mythos heraus.
Im Hier und Jetzt ist die biblische Geschichte mit Fragezeichen versehen. Besonders mit dem, wer die Verantwortung trägt, wer Opfer und wer Täter ist. Es ist die Frage nach Gerechtigkeit. Mit ihr schmückt sich so manches Treiben, das eines Volkes genauso wie das des Einzelnen. Rechtfertigung mag mit ihr schwingen. Anerkennung ebenso. Ruhm und Ehre. In diesem Sinn ist das Stück zeitlos.
Bettina Jahnke fokussiert sich auf den Kern des poetischen, sprachgewaltigen Romans und erzählt Josephs Weg als Reifungsprozess eines Mannes, der dank seines Vertrauens in sich und seines Glaubens, ein Erwählter zu sein, die Höhen und Tiefen seines Lebens übersteht. „Joseph steht an der Spitze des Staates, ist aber ein reicher, einsamer Workaholic ohne Seele“, so die RLT-Intendantin. „Der Schmerz und die Schuld aus der Kindheit sind nicht getilgt. Erst wenn er sich seiner Vergangenheit stellt, kann er seinen seelischen Frieden finden und damit sich selbst.“
In Stefan Schleue hat die Regie die perfekte Besetzung gefunden. Er verkörpert einen Joseph, der sich nicht in eine Schublade packen lässt. Dort, wo er sich überheblich und eitel behauptet, blitzt ein infantiler Spieltrieb durch. Da, wo er demutsvoll sein Los erträgt, zwickt und kratzt sein Geist zugleich am aufgezwungenen Kerker und lässt ihn hoffnungsvolle Lichtstrahlen offenlegen. Er ist groß und klein zugleich, und umgekehrt. Jede Stärke lässt Schwäche durchscheinen, jede Hilflosigkeit Überlegenheit. Er ist zu klug, um sich seinem Schicksal zu ergeben. Aber nicht klug genug, um zu wissen, was für ihn wahrhaft zählt. Am Ende ist er oben angekommen. Doch sein Erfolg ist ebenso eine Niederlage. Den Stolz des Vaters kann er nicht auf sich ziehen. Der Segen bleibt ihm versagt.
„Bist du zufrieden?“, fragt Jaakob seinen Sohn. „Ich danke dir Vater“, ist alles was er ihm entgegenhält. Es gibt quälende Fragen. Nicht auf alle gibt es Antworten. Im Stück aber gibt es einen Schluss. Und danach großen Beifall.