Der Neusser Integrationsrat – Hilfe aus Erfahrung
6. Juli 2015 | Von Graef | Kategorie: Aktuelles, Neusser LebenSolange wir kein Wahlrecht für alle Neusser Bürger haben, ist dieses gewählte Gremium die wichtigste Vertretung für die Neusser mit Migrationshintergrund. Zusammen mit dem Integrationsbüro der Stadt und den Sozialverbänden kümmert man sich um die Belange der Neubürger und stellt sich vorausschauend auf zukünftige Herausforderungen ein.
Zwölf Mitglieder des Integrationsrates (im Folgenden kurz IR) werden direkt von Neusser Migranten gewählt und sechs weitere von den Ratsparteien entsandt. Der IR ist keine neue Erfindung. Er tritt in die Fußstapfen der in NRW Jahrzehnte lang erprobten Ausländerbeiräte. Mit der demokratischen Wahl bekommt die Vertreterschaft eine neue Qualität. Durch die eigenen Migrationserfahrungen fühlen sich die Mitglieder des IR verpflichtet und befähigt, Asylbewerbern und Asylberechtigten mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Derzeit finden viele Informations- und Diskussionsveranstaltungen zur Unterbringung und Integration von Flüchtlingen in Neuss statt. Bei all diesen Podiums-Veranstaltungen haben mir neben dem kompetenten Praktiker Dirk Witte vom Städtischen Integrationsbüro auch zwei Mitglieder des IR gefallen: Der parteilose Vorsitzende Ozan Erdogan und das entsandte SPD Ratsmitglied Hakan Temel. Ich wollte mehr über die Motivation beider letztgenannten erfahren. Ozan Erdogan ließ sich 2014 in den Integrationsrat wählen und bekam direkt den Vorsitz. Erdogan: „In der vorherigen Legislaturperiode habe ich mehrmals die öffentlichen Sitzungen beobachtet. Mir hat nicht alles gefallen. Da dachte ich, jetzt musst du den Fußballschuh noch mal anziehen, musst kandidieren und versuchen es besser zu machen.“ Erdogan ist bei weitem kein unbeschriebenes Blatt.
Erdogan begleitet das Thema Integration schon mehr als 30 Jahre
Im Fußball gründete er den FSV Vatan Neuss und diente ihm 15 Jahre als Vorstand. Er war im Ausländerbeirat in den 90er Jahren. Immer war er als Vermittler gefragt, „dolmetschte“ sich durchs Leben. Heute ist er für die Wohlfahrtsverbände als Stadtteilkümmerer in Neuss-Nord und als Integrationslotse an der Basis aktiv. Für ihn sind die Integrationslotsen die Schnittstelle der Kommunikation: „Lotsen aus 20 verschiedenen Ländern und Kulturkreisen, die 40 verschiedene Sprachen sprechen, bringen die neuen Bürger in die Gesellschaft und uns wichtige Informationen. Auch steht der IR mit den vielfältigen kulturellen und religiösen Vereinen im Dialog. Es entwickelt sich ein Miteinander“, berichtet er. Dass der IR per Definition nur eine beratende statt entscheidende Funktion hat, stört ihn nicht. Die Nähe zu den Menschen, Selbsterfahrung und politische Sensibilität sind ihm Motivation genug. Als ich ihn mit stoischer Ruhe den Rat leiten sehe, hartnäckig aber gelassen und immer freundlich, kommt mir das Sprichwort vom steten Tropfen, der den Stein höhlt, in den Sinn. Meine Frage, warum er bei seinem politischen Talent nicht Mitglied einer Partei ist, beantwortet er mit: „Ich wollte immer neutral sein. War das falsch? Ich weiß es nicht. Versuche, mich zu einer Partei-Mitgliedschaft zu überreden, gab es genug. Aber ich war mir nicht sicher.“ 2014 wurde Erdogan über die Liste „Gemeinsame Zukunft Neuss“ in den IR gewählt.
Sozialpädagoge Temel – eine Generation jünger und Mitglied des Stadtrates
Fußball ist auch sein Sport: 20 Jahre DJK Novesia, erst war Hakan Temel aktiver Spieler (eine schöne Zeit mit allein sechs portugiesischen Mannschafts-Kollegen), dann später Trainer. Letztes Jahr trat der junge Politiker bei der Kommunalwahl und der Integrationsratswahl gleichzeitig an. Hier für die SPD und dort für die liberale Liste-Turkuaz. Beide Kandidaturen waren erfolgreich. So hat ihn die eigene Partei in den Integrationsrat „geschickt“ und es gab Platz für einen Nachrücker aus seiner Liste. In zwei Legislaturperioden zuvor war er als gewähltes Mitglied im IR, kennt sich dort bestens aus. So möchte er auch die Kritik Erdogans am vorherigen IR nicht ganz nachvollziehen. Denn in jedem Fachausschuss gibt es mal Desinteresse, Gezerre, Frustration und Verwirrung. Doch: „Die Resultate des IR sind durchaus vorzeigbar.“ Fast in allen Ausschüssen der Stadt sitzt inzwischen ein Gesandter des IR, es gibt einen Lotsensprecher im IR und (nicht nur) die Sozialverbände berichten und beraten. Nun will man das Neusser Integrationskonzept aus dem Jahr 2009 auffrischen. Die weiteren Vertreter des Stadtrates; El Boustami, Föhr, Kaumanns, Kilb und Verfürth sind ebenfalls engagierte Mitglieder im IR. Die Sitzungs-Atmosphäre ist selten hitzig, meist konstruktiv und oft schon „beängstigend freundlich“. Ein Umstand, welcher der Verwaltung sicher mehr Engagement abfordert als Disharmonie. „Unsere Sitzungen sind harmonischer als andere“, bestätigt Temel. Was rückblickend aber nicht nur von Vorteil ist: „Im IR haben wir schon 2012/13 über die Unterbringung zukünftig vom Land zugewiesener Flüchtlinge debattiert.“ Trotzdem wurde der IR nicht in die Planungen einbezogen. Was die Verwaltung jetzt auf die Beine gestellt hat, sei zwar gut, aber: „Aus meiner Sicht haben wir etwa ein Jahr an gemeinsamer Vorbereitungszeit verloren.“ Gemeinsam ist/wäre man stärker. Eine nicht gerade neue Erkenntnis. Gemeinsam ist auch schöner, was man unlängst auf dem Frühlingsfest der Kulturen sehen konnte.