Graffiti ist Widerstand gegen den schlechten Geschmack
4. Dezember 2013 | Von Graef | Kategorie: Neusser Leben, Neusser UmweltDas ist nicht Konsens der 3. Neusser Stadtgespräche unter dem Motto „Von Breker bis Banksy – Kunst im öffentlichen Raum“. Aber es ist ein schöner Einstieg, um sie für die Erkenntnisse dieser kontrovers aber besonnen geführten Bürgerveranstaltung im Rahmen der „agenda 21“ zu interessieren.
Die Einlader Roland Kehl und Klaus Richter hatten glückliche Händchen bei der Besetzung der Diskussionsrunde. Als Moderator gab der Kunstexperte Carl Friedrich Schroer an diesem Abend geschickt die Vorlagen, die die anderen drei Teilnehmer verwandeln konnten. Wenn sie denn wollten.
Der Dozent Dr. Helmut Blochwitz hatte von Kunst in Kaarst zu berichten. Das dortige neue Rathaus nebst Arkaden, Stadtsee und Grünanlagen ist ästhetisch gelungen. Durch die Kunstwerke, die Blochwitz als Leiter des Kaarster Steelen-Kunst-Projektes dort integriert hat, reift das Areal zum fast perfekten Ort. Schön für die Einwohner. Nur bleibt Kaarst insgesamt ein alter Dorfkern, einige (Nachkriegs-) Wohnsiedlungen, zerrissen wirkend und ohne einen der Einwohnerzahl entsprechenden Stadtkern. Mit eingemeindeten Dörfern, inklusive der Gemeinde Büttgen, fehlt Kaarst eine gemeinsame Identität. Daran ändern auch Kunstobjekte wenig.
Doch wie ist es um Neuss bestellt? Nun, der Provokateur in der Runde, der Kunsthistoriker Prof. Dr. Raimund Stecker, teilt uns ironisch augenzwinkernd einen Allgemeinplatz zu: „Ich habe schon schlimmere Städte gesehen.“ Etwas vermessen sein Vergleich mit einem architektonischen Gesamtkunstwerk wie Florenz: „Da braucht man nicht mal einen einzigen Baum in der Stadt, um das Wohlgefühl zu steigern. Da sprayt keiner an die Wände.“ Stecker hat weitere Beispiele. In Eichstadt gibt es keine einzige Reklametafel. Trotzdem „brummt es“ wirtschaftlich in der harmonischen Innenstadt. Weiter lobt Stecker Maastricht, wo keine zwei Steine aufeinander kommen ohne dass sie der städtischen Ästhetik genügen. Die Liste der Städte mit Charakter ließe sich beliebig fortsetzen.
Neuss ist ein Hauptstraßenzug mit „zweckmäßiger“ Vorkriegs- und Nachkriegsarchitektur. Was die Alliierten nicht weggebombt haben, hat die Sanierungswut bis in die 70er Jahre erledigt. Trotz Quirinusmünster, Resten der Römersiedlung, einiger gelungener Gässchen, Rathaus, gastronomischem Markt, Zeughaus, einigen historischen Gebäuden und gelungenen Neu- oder Umbauten inklusive der Hafenmoderne. Das alles gibt es im Umkreis von 50 Kilometern beeindruckender, kompakter, geschlossener, mutiger, kurz schöner.
Erfordert dies mehr Kunst im öffentlichen Raum?
Raimund Stecker stellt fest: „Viele Fassaden sehen aus wie aus dem Discounter-Katalog bestellt. Erst wird gespart und dann die öffentliche Hand gerufen: Wir brauchen Kunst und Bäume, um hier Leben hinein zu bekommen.“ Als er behauptet, für ihn unterscheiden sich die Mietskasernen westdeutscher Vorstädte nicht von den Plattenbauten im Sozialismus, geht ein ärgerliches Raunen durch das Publikum. Mit seiner Meinung, dass Graffiti eine Form ästhetischer Demokratisierung sei, erntet er lauten Widerspruch aus dem Publikum. Schon anfangs der Diskussion hatte er mit dem Statement, Graffiti und Streetart seien für ihn Widerstand gegen den schlechten Geschmack, ausgerechnet den vierten im Bunde – Autor und Kurator Robert Kaltenhäuser – zum Einspruch gebracht. Für Kaltenhäuser, einst selbst aktiver Sprayer, Künstler, Kenner der Szene und Streetart Experte sieht das Tun der Sprayer irgendwo zwischen Thrill und Selbstverwirklichung. Er legt dadurch die Latte für politisches Handeln sehr hoch.
Dabei finden wir die Tags und Pics fast immer da, wo es in der Regel schlimm aussieht: An kalter, hässlicher, sachlich genannter (Zweck-) Architektur. Dazu an ästhetisch unbotmäßigen Prunk- und Protz-Gebäuden. Man mag sich noch so über „Schmierereien“ erregen, Stecker gefällt es, dass eine Spraydose die ganze glitzernde Dominanz eines Konzerns oder einer Person ins Wanken bringen kann. Demokratie von unten? Wohl nicht. Aber unpolitisch ist das auch nicht. Ob nun Sprayen Widerstand (Stecker) und damit Kunst ist oder „nur“ Kunst (Kaltenhäuser): Leider findet man im Illegalen viel Street und wenig Art, meist Schrottiges, Zotiges und platte Slogans. Aber bei uns würde ein Banksy doch wohl nicht so kulturlos wie von New Yorks (Ex-) Bürgermeister Michael Bloomberg geächtet.
Bleibt noch die Antwort auf die Kernfrage aus dem Publikum, „wie zukünftig mit der Kunst im öffentlichen Raum umzugehen sei?“ Antwort: Fördert lieber unsere Künstler der Kunst wegen und lasst die Verursacher der ästhetischen Löcher ihre Löcher selber stopfen.