„Dunkle Geschichten aus Neuss“ von Birgit Wilms: Licht in den Schattenwurf einer umtriebigen Traditionsstadt
16. November 2018 | Von Der Neusser | Kategorie: Aktuelles, Neusser LebenSie kennen Neuss. Sie haben schon was von Röskes, dem Fetzer oder von freier Graffiti-Art unter der Gnadentaler Brücke gehört? Bei einem Ja sind Sie hier genauso richtig wie beim Nein. Denn die Autorin Birgit Wilms, vielen gut bekannt als Presse- und PR-Frau für Zeitung und Radio, hat die Quirinusstadt aus einer neuen Perspektive durchleuchtet. „Dunkle Geschichten aus Neuss“ heißt ihr 79-seitiges Erstlingswerk, das jetzt beim Wartberg Verlag erschienen ist. Eine unterhaltsame Reise durch eine Stadt mit vielen Facetten. Finsteres wie Erhellendes aus der Geschichte; Kuriositäten und Schicksale aus dem Keller ans Tageslicht geholt.
Die Mutter stirbt am Kindbettfieber. Er hat sie nie kennengelernt. Der Vater kommt bei einem Trinkgelage ums Leben. Da war Mathias Weber gerade sieben Jahre alt. Der Junge aus Dirkes, gelegen zwischen Büttgen und Grefrath, hat keinen guten Start ins Leben gehabt. Vielleicht erklärt das seinen abwegigen, traurigen Werdegang. Ein Dasein, das mit 24 Jahren jäh beendet wird. Ein Name, der in die Geschichte von Neuss eingeht, in der Akte „Betrug, Raub und Mord“. Mag der Protagonist noch so clever und gerissen gewesen sein, am Ende holte die Strafe ihn ein. Im Februar 1803 wird Mathias per Guillotine auf dem Altermarkt hingerichtet. Von wem die Rede ist? – Der zweifelhafte Ruhm gebührt dem „Fetzer“. Dem berühmt berüchtigten Neusser Räuberhauptmann, der sich durch seine Beutezüge, Fluchten und Gräueltaten einen Namen machte.
Das ist eine von vielen „Dunklen Geschichten aus Neuss“, die Birgit Wilms in ihrem Buch „erhellt“. Und das aus mannigfaltiger Blickrichtung. Mal ist es ein fiktives Gespräch, mal Einblicke in Zoologie und Botanik, dann eine Erzählung oder ein reales Interview. Die Pfade, auf denen sie sich dem Schattenwurf der Quirinusstadt widmet, sind kreativ und spannend. Wie bei Max, dem Obdachlosen.
Zeitung gegen Kälte und Ratten zählen gegen Frieren
Max ist 31 Jahre alt. Kälte macht ihm nichts aus. Sagt er. Er müsse sich nur warm anziehen. Mehrere Lagen halt. Zeitungen dazwischen stopfen, hilft auch. Nur nicht zwei Paar Socken übereinander in einem engen Schuh – dann geht die Idee nach hinten los; und die Füße frieren ab. Max weiß, wovon er spricht, lange genug hat er auf der Straße gelebt, hat die Ratten nachts im Stadtgarten gezählt. Job weg, Wohnung weg und psychische Probleme, da war kein Halt mehr und es ging ungebremst bergab. Das war gestern. Heute hat Max wieder Fuß gefasst, bewohnt mit seiner Freundin eine kleine, bescheidene Wohnung. Aber immerhin. Früher hat er sich gefreut, wenn er hin und wieder ein richtiges Essen bekam. Wie durch die Aktion „Warm durch die Nacht“ der Initiative „Neuss packt an“. Und schwups haben wir wieder was gelernt über unsere Stadt. Fast beiläufig. So funktioniert das im Buch von Birgit Wilms. Und das macht Spaß.
Rudelgucken unter Röskes
So kommen wir auch zu den „Röskes“, zu einer weniger dunklen Seite. Wenngleich diese „Frauenbewegung“ von vielen Frauen ebenfalls kritisch beäugt wird. Hier ist es Lara, die gerade aus Hamburg nach Neuss gezogen ist, die leicht irritiert das Geschehen betrachtet. Ebenso wie den Traffic in ihrer neuen WhatsApp-Gruppe „Rudelgucken für Röskes“. Überhaupt, Schützenfest und Fackelzug, was soll das eigentlich, fragt sich die Nicht-Neusserin. Sankt Martin für Männer? Dazwischen hysterische Mädels in der Laune eines Junggesellinnen-Abschieds. Und auch der Treffpunkt „Rollmopsallee“ scheint ihr nicht weniger dubios. Aber was macht man nicht alles für neue Kolleginnen. So fährt sie hin, und siehe da: Jan tritt in ihr Leben – oder eigentlich erst einmal an ihr vorbei. Ein Grenadier mit schwarzem Zylinder und grünem Kranz…
Mit Humor, Scharfsinn und Forschergeist durchforstet Wilms Vergangenheit und Gegenwart der Quirinusstadt nach Skurrilem, Abwegigem und Erwähnenswertem. So stößt sie auf die hiesige Fledermauspopulation. Immerhin bevölkern die eifrigen Nachttierchen seit mehr als 50 Millionen Jahren die Erde. 1.200 Arten der fliegenden Säugetiere sind bekannt, so erfährt man in der Lektüre. Die meisten hausen in tropischen Klimazonen. Und in Neuss sind acht Arten kartiert. Alle unter strengstem Artenschutz.
Vom Hitch zum Neusser Hafen ab in die Welt
Den braucht das Hitch-Kino noch nicht. Dennoch ist es eine Rarität mit interessanter Geschichte. Wie das „Hustenbrikett“, eine „dunkle“ Verführung aus der Neusser Innenstadt. Warum wir den Stunk haben und was nachts in der Unterführung des Nixhütter Wegs abgeht – oder im Hafen, dem Tor zur Welt – auch das erfahren wir. Viele Einsichten und attraktiv verpackte Geschichten. Die Erkundungstour lohnt, nicht nur für Neusser. Ein Blick hinter die Kulissen, in die Gewölbe und unter die Staubschichten einer Traditionsgemeinde. Vielleicht eine Idee für das erste Türchen im nahenden Adventskalender. Lesen lohnt!
(„Dunkle Geschichten aus Neuss“ von Birgit Wilms, erschienen im Wartberg Verlag, 12,- Euro)
Marion Stuckstätte