Wie können wir Barmherzigkeit leben?
1. November 2018 | Von Der Neusser | Kategorie: Aktuelles, Neusser LebenAm 20. November 2016 endete das von Papst Franziskus ausgerufene Jahr der Barmherzigkeit. Doch Barmherzigkeit endet nie. Was bedeutet sie? Wie können wir sie leben? Das Mutterhaus Kloster Immaculata ist das Zentrum der Ordensgemeinschaft der „Barmherzigen Schwestern nach der Regel des heiligen Augustinus“. Hier fanden wir Antworten.
Generaloberin Schwester M. Praxedis Gerhards und Nadine Flores, Assistentin der Geschäftsführung, empfingen uns zum Gespräch. Erst vor einigen Tagen hat Schwester Praxedis das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wieder in einer Messe gehört.
Es beantwortet die Frage „Was ist Barmherzigkeit?“ Sie ist untrennbar von einer weiteren Frage: „Wer ist mein Nächster?“
Um das zu verdeutlichen, erzählte Jesus diese Geschichte von einem Juden, der auf dem Weg nach Jericho von Räubern überfallen und schwer verletzt wurde. Ein jüdischer Priester kam an dem Verletzten vorbei und ging weiter. Bald darauf kam ein Tempeldiener; auch er ging vorbei. Schließlich kam ein Samariter, ein Angehöriger einer Religionsgemeinschaft, die mit den Juden verfeindet war. Er half dem Verletzten sofort, versorgte seine Wunden und brachte ihn in ein Gasthaus, wo er sich ausruhen und erholen konnte.
Hinsehen, sich kümmern
„Barmherzigkeit beginnt im täglichen Leben, spontan, ungeplant. Sie bedeutet: hinsehen, sich berühren lassen. Diese Sensibilität müssen wir immer wieder üben, wachhalten“, erklärt Schwester Praxedis.
Sie fährt mit einem Beispiel fort, das zeigt, wie unmittelbar und überraschend wir in Situationen geraten können, die Barmherzigkeit verlangen.
Vor einiger Zeit stand abends ein verzweifelter Flüchtling vor der Klosterpforte. Die Aufenthaltsgenehmigung seiner Familie war abgelaufen. Er wollte mit seiner Familie mit dem Zug nach Frankreich. „Was für uns zählte, war die menschliche Verzweiflung, die Not; sie war der Grund, dass wir ihm das Geld für die Fahrkarte gaben. Für uns Schwestern war es in der Situation gut, die Entscheidung gemeinsam zu tragen, nachdem wir uns zu dritt beraten hatten.“
Barmherzigkeit meint: „Das zu tun, was ansteht. Nicht theoretisch, sondern praktisch Gott verehren. Barmherzig können wir nur sein, wenn wir offen sind, uns anregen lassen, nicht urteilen, die Not erkennen, andere in der Not verstehen.“
Barmherzigkeit kann auf allen Ebenen geschehen
„Bei allem medizinischen Fortschritt, modernster Medizintechnik muss die Beziehung zum Menschen hergestellt, Vertrauen aufgebaut werden.
Professionalität ist wichtig – aber das Herz muss dabei sein. Von dem Gedanken lassen wir uns in der Krankenpflege, unserer Arbeit im Hospiz und im Altenheim leiten. Auch wer ehrenamtlich Kranke zum Spaziergang begleitet, anderen hilft, Formulare auszufüllen, ein offenes Ohr für den Kollegen hat, geduldig mit Kranken, Kindern umgeht, handelt barmherzig.“
Barmherzig sein heißt auch ermutigen
„Allerdings dürfen wir andere nicht nur als Hilfsempfänger betrachten“, betont Schwester Praxedis. „Barmherzigkeit meint auch, andere ermutigen, die eigenen Fähigkeiten zu nutzen, die Fähigkeiten des anderen zu unterstützen.“
Solche Fähigkeiten entdecken wir, wenn wir uns Zeit für andere nehmen, offen sind.
Im Hospiz freuen wir uns über die Freude, die Schwerstkranke erleben, weil sie Ermutigung erfahren.“
Barmherzigkeit im täglichen Leben
Zu unserem Gespräch im Kloster Immaculata hatten Schwester Praxedis und Frau Flores eine Tafel aufgestellt. Sie zeigt die Antworten der Barmherzigen Schwestern nach der Regel des heiligen Augustinus zur Frage „Was bedeutet für mich Barmherzigkeit?“
Sie gibt uns viele Beispiele, wie jeder von uns Barmherzigkeit im Alltag leben kann:
• Mitmenschen mit offenen Augen begegnen
• Verständnisvoll und liebevoll miteinander umgehen
• Verzeihen
• Verborgene Nöte anderer erkennen
• Ansprechen, wenn es jemandem offensichtlich nicht gut geht
• Zeigen, dass mein Gegenüber mich interessiert
• In einem Gespräch wirklich zuhören
• Mit anderen und sich selbst gut umgehen
• Andere so behandeln wie man selbst behandelt werden möchte
Warmherzigkeit“ steht auf der Tafel: kein kaltes Herz haben, kein Herz aus Stein.
Wir erhalten auch eine Antwort auf die weitere Frage:
Wer ist mein Nächster?
„Den Nächsten oder die Nächste finden wir in unserer unmittelbaren Umgebung. Nächstenliebe heißt nichts anderes, als sich Menschen zuzuwenden, die erkennbar der Zuwendung bedürfen. Dafür ist es wichtig, dass unsere Augen nicht blind und unsere Ohren nicht taub gegenüber den Ängsten und Nöten außerhalb unserer eigenen vier Wände werden.“ (aus dem Buch der Barmherzigen Schwestern nach der Regel des heiligen Augustinus)