Neuss baut dichter. Wer rettet die Natur?

2. Februar 2017 | Von | Kategorie: Neusser Leben

Das Forum Neusser Stadtentwicklung fordert im 11. Stadtgespräch: „Artenvielfalt braucht (Frei-) Fläche“. Es geht um unbebaute Flächen, die für uns Grünflächen waren. Um Wiesen, die man mit Blocks oder Reihenhäusern „verdichtet“. Es geht um Gewerbegebiete, die zu Siedlungen und Äcker, aus denen Gewerbegebiete werden.

Initiator Roland Kehl ruft dazu auf, im Dialog mit der Verwaltung den „Flächenverbrauch“ zu stoppen. Kehl: „Seit 1979 bis heute sind im Schnitt pro Jahr 16 Fußballfelder an innerstädtischen Freiflächen bebaut worden.“ Von Josef von Tumbrinck, Vorsitzender NABU/NRW, erfahren wir: 45 Prozent der Artenvielfalt in NRW ist gefährdet, der Kiebitz dem Tode geweiht, einige Arten sind bereits verschwunden. Faktisch ausgestorben konnte so der Feldhamster leider nicht die Kaarster Äcker vor dem neuen Ikea retten. Der Umwandlung von Agrarland fallen weitere Orte der Vielfältigkeit wie Hecken, Wegrandpflanzen und Brachen zum Opfer. Die Umwandlung innerstädtischer grüner Flächen in Neubauten, sowie die „Betonierung“ von Hinterhöfen und Gärten nimmt der Natur den Raum. Wir können das z.B. daran merken: Vor wenigen Jahren hatten wir bei zügiger Fahrweise massive „Insekten-Einschläge“ auf der Windschutzscheibe. Heute hat man das kaum. Das liegt am 75-prozentigen Rückgang der Fluginsekten-Biomasse, einem oft lästigem aber wichtigen Glied der natürlichen Nahrungs- und Befruchtungskette. Wir sollten uns sorgen.

Wolfgang Wappenschmidt, Vorsitzender der Kreisbauernschaft zählt noch 550 landwirtschaftliche Betriebe im Rhein-Kreis, deren Grundfläche seit Erfassung von 71 auf 42 Prozent geschrumpft ist. Die Erträge wurden gleichzeitig intensiviert. Heute wünschen sich die Verbraucher mehr Qualität durch Extensivierung und Bio-Landwirtschaft. Was Wappenschmidt gut und richtig findet, jedoch warnt: In Hinsicht auf eine ökologisch sinnvolle lokalen Versorgung ist es absolut unakzeptabel, der verlässlichen heimischen Landwirtschaft noch mehr Fläche zu rauben.

Bedarf steigt deutlich

Bis 2030 besteht ein Bedarf von 6750 neuen Wohneinheiten in Neuss, so zitiert Moderator Andres Vollmert eine „statistische Notwendigkeit“. Der städtische Beigeordnete Christoph Hölters befürchtet, diesen Bedarf nicht ausschließlich auf bestehendem Siedlungsflächen decken zu können. Aus dem Publikum wird nachgehakt: Wieso wächst offensichtlich der Bedarf an Wohnraum in Neuss rapider als die Einwohnerzahl? Eine konkrete Antwort gibt es nicht, nur Vermutungen wie: Wer es sich leisten kann, will soviel Wohnfläche wie möglich, im Urbanen und mit guter Anbindung.

Heinz Hick, Mitbegründer des Forums, der mehr aktives Handeln von der Stadtverwaltung fordert, sieht ein Potenzial im großen Leerstand unzähliger Wohnungen in kleinen privaten Mehrfamilienhäusern. Es gibt Gemeinden in Deutschland, die Tausch-Konzepte für diese Immobilien bieten. Für den Beigeordneten Hölters ist der Effekt jedoch zu gering, gemessen an den immensen Herausforderungen der Stadtentwicklung.

Silke Hauser, IHK Mittlerer Niederrhein, erklärt wiederum, dass zwar Wohnen, Leben, ein gutes Bildungs-, Kultur- und Unterhaltungsangebot aber vor allem Arbeiten, die Säulen einer gesunden Stadt sind. Die aktuelle Entwicklung habe jedoch Schieflage: Auf den Geländen von  Whitesell und Pierburg soll der Profit verpflichtete Düsseldorfer Investor BEMA einen modern-urbanen Wohn- und Gewerbemix entwickeln. Das Leuchtenberg-Areal wird zur Wohnsiedlung und die Pläne für das Eternit-Gelände zeigen eine ähnliche Tendenz: Der Arbeitsplatz Neuss schrumpft. Nimmt man Abwanderungs-Pläne wegen Platznot (HARIBO etc.) noch dazu, werden unsere wichtigen Gewerbesteuer-Einnahmen weiter schrumpfen. Deshalb fordert Silke Hauser von der IHK Mittlerer Niederrhein:

Ausgleich für Umwandlung

Für jede Umwandlung von Gewerbegebiet zum Wohngebiet muss es einen adäquaten Ausgleich geben. Aber woher? Diese Frage bleibt offen. Moderator Andreas Vollmert will von Christoph Hölters wissen, warum man in Neuss nicht punktuell in die Höhe baut. Mit Argumenten zwischen Machbarkeit, Finanzierbarkeit und gewohntem Stadtbild wird dieser interessante Ansatz, ebenso wie eine Verpflichtung zum nachhaltigem „Grünen Bauen“ ad acta gelegt. Reihenhaus-Konzepte wie in Allerheiligen, der schnellst wachsenden Wohnlage auf (grünem) Stadtgebiet, haben Vorrang. Das mag für „da draußen“ argumentierbar sein. Aber innerstädtisch? Bei so vielen offenen Fragen kann man sich auf das 12. Stadtgespräch im Forum Alte Post am 22. Februar freuen. Da gibt es Antworten oder zumindest Visionen zum Thema: „Wie leben wir in der Zukunft?“