Junk Opera „Shockheaded Peter“ im RLT: Kinder können so grausam sein – Eltern auch!

8. November 2019 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Er war ein Frankfurter Kinderarzt und Psychologe namens Dr. Heinrich Hoffmann. 1845 verfasste er ein Kinderbuch für seinen 3-jährigen Sohn zu Weihnachten, das weltweit Furore machte: „Der Struwwelpeter“. Ein Buch, das erzieherisch wirken sollte und im Vorwort den Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder“ nutzte, sich allerdings für Kinder als wahrer Horrorschocker enttarnte. Geschichten vom Zappel-Philipp und Suppen-Kaspar, von Hanns Guck-in-die-Luft und dem brennenden Paulinchen. Böse Kinder. Solche, die nicht hören wollten. Zum damaligen Nightmare gibt es eine moderne Version, die gerade im RLT gezeigt wird: „Shockheaded Peter“, inszeniert von Philipp Moschitz. Eine Junk Opera vom Feinsten – schrill, krachend und kunterbunt, mit Nachhall – die heutiges Familiendasein als ebensolche Grausamkeit entlarvt. Kurt Weill entstaubt. Junges Theater. Hingehen empfehlenswert! (+ 14 Jahren)

Schwarze“ Pädagogik – der Horror aus Kinderstuben, wer kennt die Helden des „Struwwelpeter“-Bilderbuchs nicht. Jungen und Mädchen, die aufbegehren, sich wehren. Sie gehörten nicht ins ordentliche Elternhaus. Hingesetzt und stillgehalten! Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! – Kein Wunder, dass der böse Friederich und Konsorten zugrunde gingen. Überholtes Gedankengut? Vielleicht nicht. Leicht variiert kreist es umher und macht kaschiert seine Runden. Nichts ist wie es war. Kinder nicht. Eltern nicht. Aber lange ist nicht alles besser. Und die, die es besser wissen, haben neue Fallgruben aufgestellt. Da hat sich der „Shockheaded Peter“ ganz gut platziert. So jung ist das Stück nicht. 1998 nahmen sich Phelim McDermott und Julian Crouch des Stoffes an und setzten in ihrem „The Ultimate Shockheaded Peter“ noch einen drauf: Hier überlebte keiner. Mit der Musik der Tiger Lillies entstand ein schaurig tolles Musiktheaterstück. In Hannover, Wiesbaden und Chemnitz war es in den vergangenen Jahren zu sehen. Kampfzone Familie leuchtet obendrüber. In Cottbus nannten sie es ein „Grusical“. Und auch in Neuss warnt man jetzt schon zu Anfang: „Nichts für schwache Nerven!“

Vom Babytraum zum Elterntrauma

Wer hier erwartet, vom Struwwelpeter-Traumatisierungsprozess befreit zu werden, erhält eine klare Absage. Trotz des harmlosen Starts: ein junges Paar, das Liebe macht und ein Baby kriegt. Und dann… Dann kracht es rein, dieses kleine Etwas, in ihr Leben. Irgendwie ist alles anders, anders als sie sich das vorgestellt hatten. Richtig schön ist es nicht. Das Kind nicht, und auch nicht mehr das Leben. Es funktioniert noch nicht mal. Das Kind. Nicht wie bei den anderen. Zumindest nicht so, wie die anderen es erzählen. Da geraten Eltern unter Stress. Und versuchen ihr Bestes…

„Ich esse meine Suppe nicht! Nein, meine Suppe ess’ ich nicht!“ … „Am vierten Tage endlich gar, der Kaspar wie ein Fädchen war. Er wog vielleicht ein halbes Lot. – Und war am fünften Tage tot.“ Wenn flehen nicht hilft, dann vielleicht drohen. Oder wegsehen. Und plötzlich gehen sie unter, die Kleinen. Schon brennt die Hütte, kommt ein Schläger vorbei, sind Daumen ab oder das Kind platzt. Das alles an heftig dröhnend queren Sounds. In Neuss unterstützt durch Puppen, die das Spiel – mit Abstand und Nähe, Märchen und Realität – noch stärken. Dies in 12 Sensationen gepackt: Von „Zeitgemäße Ernährung“, „Das richtige Maß an Kontrolle und Schutz“ über „Das Drama des hochbegabten Kindes“ bis hin zu „Pausenhof-Mobbing“, „ADHS“ und „Eltern in Burnout“. Und noch anderes „Bekanntes“ mehr. Leistung steht auf dem Prüfstand – und am Schluss sogar die Fantasie. Dann wird es ruhig. Sensible Klänge dringen ins Ohr. Bei „Flying Peter“. – Einfach tot.

Packender Sog an coolen Sounds und aufwühlenden Sequenzen

Eine Geschichte von komischen Kindern, ebensolchen Eltern, oder von solchen, ohne Akzeptanz. „Unsere Freaks sind nicht die Kinder, sondern die Eltern, die mit allen Absonderlichkeiten des 21. Jahrhunderts zu kämpfen haben“, heißt es im Intro. Da ist es ganz normal, dass Mama und Papa sich Sorgen machen. Unter Erfolgsdruck. Unter Zeitnot. Im Hier und Jetzt. Schreie nebenan. Und hier.

Ein bunter, heftiger Sog. Laut und einschlagend. Weills Macki Messer aus Brechts Dreigroschenoper lässt im modernen Look grüßen. Die Zeit ein Phänomen. Wiedererkennung ein reiner Zufall. Ein schockierender. Dieses große gelbe Buch mit dem zerzausten Struwwelpeter und seinen spitzen, ausgewachsenen Fingernägeln hat ein neuzeitlich grausiges Gesicht. „…ein einziges Mal hat sich Mama Natur an ihrer Macht besoffen und schafft von einer grellen Eingebung durchzuckt eine einzigartige Abweichung, einen Solitär. Ihr Meisterstück…“ Und dann?

„Shockheaded Peter“ in Neuss ist packend von Schauspiel, Bühne, Musik bis Gesang. Prima Inszenierung! Tolle Darsteller! Eine Band, die Ohrwürmer setzt! – Wer nicht hingeht, ist selber schuld

Ebenfalls noch zu sehen und gewiss einen RLT-Besuch wert: Das „Streichholzschachteltheater“ von Michael Frayn, inszeniert von Caroline Stolz. Hier lacht man auf Niveau über sensibel klug entblößtem Witz. Es ist das Leben, das die besten Szenen schreibt. Und es ist das wachsame Auge, das in großen und kleinen Tragödien den Humor entdeckt, um ihn nach außen zu kitzeln. Prima Einstand der neuen Intendantin!