Szenen einer Ehe – vom Mythos zur grausamen Realität

9. Oktober 2018 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Foto: Björn Hickmann / Stage Picture

Spielzeiteröffnung im RLT mit „Mamma Medea“ von Tom Lanoye: War es Übermut, war es Leidenschaft oder Abhängigkeit? Gar Blindheit? – Wie immer die Antwort lautet, die in eine Tragödie führt, das Resultat hier ist eindeutig: Sadismus am Küchentisch.

Tom Lanoye hat mit seinem Werk „Mamma Medea“ Medeas Rache vom griechischen Mythos in die Gegenwart geholt. Harte Kost, denn zwischenmenschliche Abscheulichkeit wird bei ihm ganz leise zur Ekstase geführt. Ergreifend, schockierend und realistisch. Reinar Ortmanns Einstieg als Intendant hat es in sich. Er zeigt, dass sein Programm nicht auf Kuschelkurs mit dem Publikum geht, sondern bewegen will. „Welt vermessen“ lautet so auch das Credo dieser Spielzeit. Regisseur Ronny Jakubaschk serviert die Brutalität als fast alltägliche Normalität und platziert den Schrecken treffsicher durch banale Gewöhnlichkeit. Über zwei Stunden absolute Stille im Saal. Schockstarre – vor verdientem Applaus einer ergreifenden Auftaktinszenierung.

Ich habe wirklich getan, was ich konnte. Aber ich kann nicht mehr“, erklärt Jason. Der Ort: eine kläglich-schmuddelig enge Küche. Medea hat ihm vorgeworfen, alles für ihn aufgegeben, ihm ihre besten Jahre geopfert zu haben. Jetzt will er sie austauschen. Gegen eine Jüngere. Eine, mit der Jason wieder ganz nach oben kommen kann, ins Königshaus von Korinth. Macht und Erfolg standen für ihn immer ganz oben. Er hatte gehofft, mit Medea bringe er es weit. Doch sie sind Fremde, immer auf der Flucht. Ganz unten. Er braucht Medea nicht mehr. Ihre gemeinsamen Kinder schon, denen verheißt er in der neuen Verbindung eine wundervolle Perspektive. Nur Medea, sie muss weg. Sie war eh immer sperrig, anders und angsteinflößend. Sicher, sie hat ihm einst zum goldenen Vlies verholfen, hat den Brudermord geplant, um die Flucht aus ihrer Heimat nicht zu gefährden. Aber das ist lange her. 10 Jahre schon. Sie sind hier – und tief gelandet. Die kluge Medea im engen Nest, reduziert auf die Funktion „Hausfrau“. „Ich habe dir Kultur und Gesetze beigebracht“, hat er behauptet und verhöhnte ihre Heimat. „Das war kein Land mit Milch und Honig.“ Sondern ein Käfig. Er ist sie leid. Hat genug von ihr und ihrem Hochmut. „Die Kinder werden größer und werden nicht mehr glauben, was du ihnen eingeflößt hast“, hatte er noch geschrien.

Wir sind in „Mamma Medea“, schon weit am Ende. Vers und Metrum des ersten Teils haben wir längst hinter uns gelassen. Die Sprache der zweiten Hälfte lässt keine Distanz zur Fremdartigkeit mehr zu.

Wenn Seifenblasen platzen und Wahrheit ein Kerker ist

Sie, sie hatte lange zugehört. Aus Liebe? Aus Verzweiflung? Aus Bewunderung? – Nun will sie nur noch eins: Rache. Für ihr vertanes Leben. Für den Betrug. Für die Sinnlosigkeit des Seins. Bestrafen, alle: In Feuer geht die Geliebte auf. Ermordet auch deren Vater. Schüsse unweit des Flures zerschmettern die quälende Atempause. Dann steht sie wieder in der Küche. Nur fünf Worte: „Dein Erstgeborener ging auch zuerst.“

Noch aber ist die Inszenierung nicht vorbei. Über 120 Minuten läuft sie schon, taucht den Saal des RLT in unsichere Lautlosigkeit. Minuten, die im Flug dahinschwinden, das Publikum gebannt in die Stühle gedrückt. Ronny Jakubaschks Inszenierung „Mamma Medea“ holt den Mythos in den Realismus, den Schrecken in die eigene Stube. Entsprechend Lanoyes Vorlage gliedert sich der Abend in zwei Abschnitte. Die Begegnung von Jason und Medea, Jasons Überwindung der schier unmöglichen, todbringenden Prüfung dank Medeas göttlichen Gaben, der Raub des goldenen Vlieses und die Flucht samt Familienbetrug. Denn anders als bei Euripides setzt Tom Lanoye seine Medea-Geschichte früher an, noch in Medeas Heimat, im archaischen, streng patriarchisch regierten Kolchis. Hier verliebt sie sich in ihn, folgt ihm, der ihr die Ehe und Treue aus Dankbarkeit verspricht. Sie sind ein ungleiches Paar, von Anfang an. Er ist übermütig, erfolgshungrig und abenteuerlustig. Ein Draufgänger. Sie ist leise, besonnen und reflektiert. Bis sie zur Furie wird. Sie sprechen nicht die gleiche Sprache, können einander nicht verstehen. So lässt er sich anfangs eher lenken, fasziniert von ihrer Schönheit und Intelligenz.

Ich hab‘ den Papa ganz doll lieb“

Die Bühne ein Schlachtfeld, aus zerfleischenden Worten und mörderischen Gedanken. Ein Ort eiskalter Hinrichtung. „Ich will doch nur, dass du mich liebst“, ruft der Racheengel Medea in seine ausgehöhlt leeren Augen. „Kinder, gebt dem Papa einen Kuss, damit er nicht mehr böse ist.“ Ihre Hand ist zertrümmert – alle Träume ebenso. Von ihm. Von ihr selbst. – Die Schokoladenbecher drehen ihre Runden in der Mikrowelle. Für die Kinder. Als sei die Welt noch in Ordnung. Und die Verzweiflung ein Mittagsgedeck. „Ich hab‘ den Papa ganz doll lieb.“

Jakubaschks Inszenierung im RLT lässt die Fremdheit Bahnen ziehen. Nicht die fern der Heimat, vielmehr die Fremdheit menschlichen Miteinanders und die Fremdheit vor sich selbst. Sie sind es, die in die Katastrophe führen. Wer hier Opfer ist, wer Täter, man sucht und verirrt sich. Verlierer sind sie alle. In dieser Küche, angekommen in der Trostlosigkeit des Alltags. Jenseits jeder Hoffnung und Fantasie. Die Liebe ein Gespenst.

Wunderbar ist das falsche Wort für Grausamkeit. Genial ebenso. Aber diese Vorstellung bildet einen Saisonauftakt, den man sich nicht entgehen lassen sollte. „Welt vermessen“ – wir haben ein wenig Angst, was noch kommt; uns bewegt. Solche zertrümmernden Paukenschläge nehmen wir gerne an. Und mit nach Hause. Tolle Inszenierung, brillante Schauspieler. Allen voran Philipp Alfons Heitmann als Jason.

Marion Stuckstätte