Saison 2018/19 am Rheinischen Landestheater: Das Graben der Menschheit

21. September 2018 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Ein Jahr wird er sich hier in Neuss als Intendant des Rheinischen Landestheaters präsentieren. Die Position von Bettina Jahnke, die vorzeitig als künstlerische Leitung ans Potsdamer Hans-Otto-Theater wechselte, ist für 2019/20 schon neu besetzt. Dazwischen nutzt Reinar Ortmann, bislang RLT-Chefdramaturg, mit seinem Interimsmandat die Chance, dem Haus eigene Prägung zu geben. Denn die Wahl der Stücke der kommenden Saison zeigt klar eine neue Handschrift. Der Fächer ist enger aufgeschlagen, fokussiert sich auf den Mensch und die Tragödien, die er schreibt. Tom Lanoyes „Mamma Medea“, „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch oder „Jackie“ von Elfriede Jelinek stehen auf dem Programm. Sie weisen den Weg. Einer, der sich in die Tiefen der Psyche begibt und nach menschlichem Antrieb gräbt. Und Fragen aufwirft; z.B. mit Konstantin Küsperts Textcollage quer durch die europäische Geschichte.

Sind wir eigentlich noch zu retten?“ – Nicht weniger als diese kleine, aber feine Frage steht in der Premiere am 2. März 2019 im Raum, wenn der 1982 geborene Autor Konstantin Küspert einen scharfen Blick auf Europa wirft. Europa – für die einen ein strahlender Hoffnungsschimmer am Ende einer langen Reise, für andere eine nervige Verpflichtung, die man möglichst schnell wieder loswerden will. So wird die Funktion der Europäischen Union kontrovers diskutiert: Sichere Festung Europa oder unflexible Fußfessel? Einheit oder Zwangsgemeinschaft?
Denn schon die Namensgeberin des europäischen Kontinents hatte es nicht leicht. Als phönizische Königstochter denkt Europa an nichts Böses, als sie Zeus in Gestalt eines umwerfenden weißen Stiers entdeckt. Aber ehe sie sich versieht, wird sie von selbigem aus ihrer asiatischen Heimat auf die Insel Kreta verschleppt – und dort brutal vergewaltigt. Ein hartes Schicksal. So will sie verzweifelt ihrem Leben ein Ende bereiten. Doch die Liebesgöttin Aphrodite macht ihr Mut. Sie prophezeit „Europa“ eine glänzende Zukunft, soll sie doch Griechenland, das Römische Reich und ebenso das Christliche Abendland beherbergen und mit ihrem Namen für einen Kontinent der Aufklärung und der technischen Revolutionen stehen.
Doch was ist noch übrig von den Prophezeiungen Aphrodites und von den großen europäischen Werten, wie Demokratie, Frieden und Freiheit? – Konstantin Küspert hat einen wilden Ritt durch die europäische Geschichte geschaffen, der Mythos, Historie und Meinung verbindet und der Realität Europas nachspürt.

Welt unterm Maßband

Ein weites Feld? – Vielleicht. Aber die Welt lässt sich heute leichter taxieren. „Unsere Welt wird immer kleiner, auch wenn ihr Umfang gleich bleibt“, so die These von Reinar Ortmann zum Spielzeit-Motto, das den prägnanten Titel „Welt vermessen“ trägt. „Heute kann eine minimale Bewegung auf der einen Seite der Erde eine Katastrophe auf der anderen bewirken. Norden und Osten, Westen und Süden sind voneinander abhängig wie nie zuvor. Waren- und Datenströme verbinden die Kontinente. Wanderbewegungen überwinden jegliche Grenzen. Abschottung und die Beschwörung der eigenen Nation bieten nur scheinbar Schutz.“ Zugleich vermehre sich die Menschheit in rasender Eile und erhebe Anspruch auf alle Ressourcen ihres Wohnortes Erde. „So ist die Gegenwart das erste Zeitalter in der Geschichte unseres Planeten, das komplett und irreversibel von der Spezies Mensch beeinflusst ist.“

Um nichts Geringeres als die Welt und das, was der Mensch aus und mit ihr gemacht hat, geht es dann auch in der Spielzeit 2018/19: So wird Medeas Rache von Tom Lanoye seziert oder der Ignoranz eines Herrn Biedermann, kreiiert von Max Frisch, auf die Bühne geholt. Ob das Schicksal der Menschen eine selbst fabrizierte Apokalypse ist, hinterfragt die Weltuntergangsrevue „Die kurze Geschichte der Menschheit“. Und die Inszenierung „Herz der Finsternis“, nach der Erzählung von Joseph Conrad, setzt das Publikum in Afrika aus, dorthin, wo reiche Welt arme seit Jahrhunderten plündert. Kein schöner Anblick, sondern ein Fenster in menschliche Abgründe und schwarze Seelen. Aber auch mit geringerer Last präsentieren sich Werke im RLT-Programm, wie variantenreiche „Schiffsbrüche“ in Vicki Baums „Menschen im Hotel“, in William Shakespeares „Was ihr wollt“ oder in Anton Tschechows „Der Kirschgarten“.
Eine intelligente Mischung; Reflexionen aus verschiedenen Epochen, auf einen Kern fokussiert – zum Mitdenken gewoben. Mit Verzicht auf Klamauk. Ein Fächer, der sich diesmal nicht über alle Genres spannt, mehr über Blickwinkel. Eine Auswahl, die neugierig stimmt!

(Nähere Infos zum Spielplan 2018/19, zum Saisonauftakt und zum Theaterfest unter http://www.rlt-neuss.de)

Marion Stuckstätte