Morgen ist auch noch ein Tag …

12. September 2018 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Leben

Endlich gesünder essen, jeden Tag sportliche Betätigung, die Englischkenntnisse auffrischen … maňana, maňana … Wir verheddern uns in Kleinigkeiten, dümpeln so dahin, rauben uns gute Zeit durch schlechte Gefühle, dies und das noch immer nicht getan zu haben. Ein bisschen Aufschieben ist normal. Gerät das Aufschieben außer Kontrolle, bleiben wir dauerhaft unter unseren Möglichkeiten und handeln uns möglicherweise Ärger ein.
Die Steuererklärung ist ein beliebtes Beispiel. Wäsche bügeln, unnötige Handyverträge oder Versicherungen kündigen, den Keller aufräumen, die Examensarbeit schreiben, endlich gesünder essen … fast jeder kennt solche Dinge, die man auf die lange Bank schiebt.

Aufschieben: so geht‘s

Wie könnte ein Aufschieberitis-Tag verlaufen? Ein Beispiel:
Ach, ja, die alljährliche Steuererklärung. Um es gleich vorweg zu sagen: es hat noch geklappt. Auf den letzten Drücker. Das dritte Maiwochenende habe ich mir für diese Arbeit reserviert. Erstmal die Quittungen und Belege zusammensuchen. Prompt entdecke ich den Staub, der sich in den Ecken der Schubladen angesammelt hat. Es ist noch ja früh am Morgen; das Saubermachen krieg ich in meinen Plan hinein. Ich hole den Staubsauger. Wo steckt nur diese Fugendüse? Ich habe sie vor einigen Tagen meiner Nachbarin geliehen. Es ist ja fast zehn Uhr. Da kann ich bei ihr klingeln. Lust auf eine Tasse Kaffee? Oh, immer gern. Ich erzähle, dass ich mir am Wochenende die Steuererklärung vorknöpfe. Sie hat sich den Garten für heute vorgenommen. Ach ja, ich habe die japanische Kresse nicht vergessen, von der ich ihr ein Exemplar geben will. So, jetzt aber schnell rüber mit der Fugendüse. Bald sind meine Schubladen picobello. Ich habe gleich alle ausgesaugt. Nun noch die Kresse zur Nachbarin bringen. Später werde ich ihr noch die Pflegeanleitung und ein paar Infos zur Pflanze ausdrucken. 12:30 Uhr. Die Steuererklärung läuft mir nicht weg. Vorher noch ein Blick aufs Smartphone. Anfrage: Ob ich den Hund meiner Schwester heute Nachmittag nehme? Ich freue mich auf den Spaziergang bei dem Wetter. Und so weiter und so weiter … am Abend ist an der Steuerklärung noch nichts getan. Als ich im Bett liege, melden sich Gewissensbisse. Habe ich den Tag verplempert? Ich war doch den ganzen Tag irgendwie beschäftigt …“

Zuerst das Vergnügen, dann die Arbeit …

Die Gewohnheit, Dinge aufzuschieben wird spaßeshalber als Aufschieberitis bezeichnet. Im Fachjargon als Prokrastination. Der Begriff hat seine Wurzeln im Lateinischen: „crastinum“ = der morgige Tag. Also: für morgen.
Wenn wir aufschieben, geben wie dem unangenehmen Gefühl und der Unlust nach, die wir mit der Aufgabe oder Tätigkeit verbinden. Meldet sich das Unerledigte, bringen AufschieberInnen die innere Ermahnung zum Schweigen, indem sie etwas Angenehmeres oder einfach etwas anderes tun. Auch wenn wir nicht gern Kritik hören: Es ist unsere Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub.
Wissenschaftler der Uni Mainz haben herausgefunden, dass ausgeprägtes Aufschieben von wichtigen Tätigkeiten mit Stress, Depression, Angst, Einsamkeit und Erschöpfung einhergeht und die Lebenszufriedenheit verringert. Tückischer Weise stellt der Leidensdruck sich erst ein, wenn sich ein erdrückender Berg von Unerledigtem angehäuft hat, von dem kurzfristige Vergnügen nicht mehr ablenken können.

Wann Aufschieben gefährlich wird

Wenn wir die Hoffnung verlieren, das Liegengebliebene überhaupt noch bewältigen zu können, Angst vor Versagen uns lähmt, fühlen uns schuldig und minderwertig. Spätestens wenn die Aufschieberei uns in berufliche, finanzielle und private Schwierigkeiten bringt, muss professionelle Hilfe her.
Von den Krankenkassen ist Prokrastionation bisher nicht als Krankheit anerkannt. Liegt eine Depression oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor, die meist von Aufschieben begleitet wird, kann die Psychotherapie von den Krankenkassen übernommen werden. Coaching und Selbsthilfegruppen sind Möglichkeiten, den Teufelskreis von Aufschieben, Vermeiden, Versagensgefühlen zu durchbrechen.
Schwache Selbstkontrolle und Aufschieberitis gehen Hand in Hand. Deshalb muss sich niemand schämen. Das Problem ist so verbreitet, dass der Tag der Anti-Prokrastination am 6. September weltweit darauf aufmerksam macht.

Wie anfangen und durchhalten?

Hätte unsere Beispielperson nur eine halbe Stunde an ihrer Steuererklärung gearbeitet, hätte sie nicht nur einen ersten Pflock eingeschlagen, sie hätte auch die schwierigste Hürde genommen: das Anfangen.
Zerlegen wie den großen Berg an Arbeit oder unangenehmen Aufgaben in kleine Teilstücke, verzeichnen wir häufiger Erfolge. Jedesmal wenn wir einen Teilschritt abhaken können, ist das eine Belohnung, die zum Weitermachen motiviert. Wichtiges oder Unangenehmes sollten wir zuerst erledigen, Prioritäten setzen. Das alles ist leichter gesagt als getan. AufschieberInnen sollten sich nicht scheuen, ihr soziales Netz zu nutzen. Sie können andere Menschen bitten, sie zu erinnern. Jeder kennt Menschen, die es gut mit einem meinen und denen man sich anvertrauen kann, bevor das Aufschieben uns in Schwierigkeiten bringt. Zögern wir nicht, uns gegenseitig aus der Aufschiebefalle zu helfen bzw. uns davor zu bewahren.

Claudia Pilatus