Einfach mal nix tun oder die neue Sehnsucht nach Ruhe

2. November 2017 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Leben, Titelthema

„Noch 148 Mails checken…“ Die Zahl, die Tim Bendzko 2011 in seinem Hit „Nur noch kurz die Welt retten“ besang, gehört heute zum täglich Brot von Führungskräften und vielen anderen Beschäftigten, denn die elektronische Kommunikation hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Damit einher geht permanente Verfügbarkeit und Erreichbarkeit online beziehungsweise mobil. Abschalten unerwünscht, auch im Urlaub. Das wird vielen mittlerweile zu viel. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach Ruhe.

Studien haben herausgefunden, dass Führungskräfte im Schnitt 30.000 Emails im Jahr bekommen und bearbeiten müssen. Das macht 115 pro Arbeitstag, Urlaub noch nicht mitgerechnet. Daneben gibt es noch Anrufe, SMS, diverse WhatsApp-Gruppen etc. Ständig meint man, irgendetwas „checken“ zu müssen, ansonsten könne man Wichtiges verpassen, den Anschluss verlieren oder ein Informationsdefizit riskieren. Man ist überall und jederzeit erreichbar, beziehungsweise meint, dass das erwartet wird. Die Folge: Jeder dritte Berufstätige fühlt sich permanent im Stress und schafft es nicht mehr richtig abzuschalten. Kein Wunder, dass der Wunsch nach Ruhe und Entschleunigung in dieser von vielen als immer hektischer empfundenen Zeit zunimmt. Die Antwort auf diese Sehnsucht ist omnipräsent, man könnte hier von einem echten Trend, wenn nicht gar Megatrend sprechen. Googelt man „Entschleunigung“, landet man über 500.000 Treffer. Man findet zahllose Ratgeberseiten voll mit Tipps, wie man sein Leben entschleunigen kann. Atemübungen, Spaziergänge, bewusst eingeplante Auszeiten werden genannt, mindestens genauso häufig fallen Begriffe wie Achtsamkeit, innere Ruhe und Digital Detox, was soviel heißt wie digitales Entgiften, also bewusster Urlaub von dem ganzen digitalen Stress. Buchhandlungen und Zeitschriftenregale sind ebenfalls voll mit Publikationen zu diesem Thema. Es gibt mittlerweile zahlreiche Magazine wie Flow, My Harmony und Emotion Slow, die das bewusste Leben zelebrieren, indem der Stress via Besinnung auf das Wesentliche einfach ausgebremst wird. Auch in Buchhandlungen findet sich meterweise Ratgeberliteratur: Achtsamkeitstrainings, Meditationshandbücher und Entschleunigungsratgeber, daneben meditative Ausmalbücher, Kochbücher für Slow Cooking und Anleitungen für alle möglichen Do-it-yourself-Techniken wie Handarbeiten, Malen oder Korbflechten. Es gibt ganze Messen und Konferenzen zu dem Thema, wie etwa die Slow Living Conference oder die Grenzenlos-Messen in vielen deutschen Städten, wo zahlreiche Aussteller Wege zu mehr Wellness und Entspannung im digitalen Alltag präsentieren. Meist kostenpflichtig.

Ist Langsamkeit tatsächlich der neue Luxus?

Ein ausgemachter Trend also, der den Rückzug ins Private oder die Flucht in die Natur als erlösende Antwort auf die zunehmende Hektik im immer ausgedehnteren Berufsleben geltend macht. Analog, achtsam und handmade sind die neuen Zauberformeln, unterm Strich steht die Rückbesinnung auf das wie auch immer geartete Wesentliche. Aber geht die Rechnung auf? Es wird keiner bestreiten, dass ein ausgedehnter Spaziergang, ein paar Stunden in der Natur den Kopf wieder freier machen. Das wusste man übrigens schon zu Großmutters Zeiten, als es zwar noch kein Smartphone gab, aber trotzdem Stress. Auch Kochen mit Freunden, Essen mit Genuss, Sport oder ein anderes erfüllendes Hobby sind ein guter Ausgleich. Auch das ist nichts Neues. Neu ist der Trend, daraus ein lukratives Geschäftsmodell zu machen, an dem viele gut und erfolgreich mitverdienen. So hat beispielsweise die Zeitschrift „Landlust“ in den vergangenen Jahren an Auflage zugelegt wie kein Blatt sonst. Sie singt das Hohelied vom einfachen, analogen, ländlichen Leben als heilsamen Gegenentwurf zur urbanen Hektik der digitalisierten, modernen Welt. Es wird gezeigt, wie das eigene Heim dekoriert, der Garten gepflegt, Selbstgeerntetes lecker verkocht und Natur pur erlebt werden kann. Es steht außer Frage, dass sich das Beschäftigen mit analogen, handgemachten Freuden ein guter Ausgleich ist. Aber ist es das Allheilmittel? Geht es nicht vielmehr um die Beantwortung der Frage, wie man den Anforderungen der modernen Arbeitswelt (die nun mal ist, wie sie ist) möglichst stressfrei begegnet und einen sinnstiftenden Ausgleich schafft? Diese Frage kann vermutlich jeder für sich selbst intuitiv richtig beantworten. Während der eine vielleicht lieber abends einfach mal sein Handy ausschaltet, macht jemand anders lieber Yoga. Oder meditiert. Oder joggt. Oder, oder, oder…

Denn eigentlich ist es ja wirklich nichts neues. Stress gab es immer schon. Methoden, um abzuschalten, auch. Waren es früher Arbeitstage mit 10 oder mehr Stunden, unter Tage oder in riesigen Fabriken, dreckig und laut, sind es heute moderne Großraumbüros, digitalisiert und vernetzt. Die Rahmenbedingungen, unter denen gearbeitet wird, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Aber nicht die Welt und ihre Prinzipien: Gearbeitet wurde schon immer. Pausiert und entspannt auch. Hier ist dann jeder seines eigenen Glückes Schmied und sucht sich das aus, was zu ihm passt.

In diesem Sinne: Wenn einem einfach alles zu viel wird, einfach mal abschalten, raus in die Natur. Neuss bietet dafür ganz hervorragende Möglichkeiten. Ein Spaziergang im Stadtpark, Joggen im Botanischen Garten, Radfahren am Rhein, Skaten in Allerheiligen und vieles mehr.

Das ist leichter gesagt als getan? Einfach mal ausprobieren. Es lohnt sich.

Monika Nowotny