Eine gegen alle – Wahrheit contra Profit

6. März 2017 | Von | Kategorie: Neusser Kultur

Moderne Adaption von Ibsens „Volksfeind“ im Theater am Schlachthof

Mit der Wahrheit ist es so eine Sache; in der Politik wie in der Gesellschaft. Oft findet sie nur Gehör, wenn sie von Nutzen ist. Mag sie Schaden zufügen, ob persönlich, karrieremäßig oder im Machtapparat, so wird sie gerne übergangen, vertuscht und gar umgedreht. Masse macht Meinung – skandieren statt argumentieren; einen bisschen Angst drauflegen, Komfort beschneiden und schon dreht sich das Fähnchen im Wind, damit es weiterhin auf der Sonnenseite flattert. Ibsen hat sich den gesellschaftlichen Machenschaften der Korruption, Gewinnsucht und Vetternwirtschaft vor über 100 Jahren in seinem „Volksfeind“ angenommen. Doch sein Stück ist heute noch aktuell, vielleicht mehr denn je. Katja Lillih Leinenweber hat es in zeitgemäßer Form im Theater am Schlachthof auf die Bühne gebracht. Eine aufrüttelnde Interpretation, in der sich die Intrige fast unmerklich ins heitere Treiben schleicht und sich die Bösartigkeit erst von allen Seiten zeigt, als ein Stoppen nicht mehr möglich ist.

Wer Markus Andraes Statement aus dem „der NEUsser Jahresheft 2016“ noch im Kopf hat, der wird sich nicht wundern, mit welcher Premiere das Theater am Schlachthof ins Jahr 2017 schreitet. „Man muss sich Sorgen machen und man muss den Anfängen wehren!“, mahnt der Künstlerische Leiter des TAS mit Blick aufs Weltgeschehen, auf den steigend populistischen Pöbel und den geistigen Brandstiftern, die in Europa, Asien wie in Amerika die Uhr in Sachen Freiheit, Gleichheit und Demokratie nach hinten drehen. „Das Theater am Schlachthof jedenfalls will auch weiterhin mit seinen Mitteln dazu beitragen, den Weg zurück ins Mittelalter zu verhindern.“ Gesagt, getan. Die Stückauswahl „Volksfeind“ von Henrik Ibsen treffend. Die modernisierte Version von Katja Lillih Leinenweber (Regie) und Markus Andrae (Dramaturgie) unterhaltsam wie aufrüttelnd – im überzeugend entwickelten Spannungsbogen.

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Manipulierter Glaube trumpft vor fachkundigem Wissen
Zur Geschichte: Die junge, ehrgeizige Kurärztin Thea Stockmann entdeckt, dass das Kurbad in ihrer Heimatstadt durch Industrieabwässer verseucht ist. Gemeinsam mit einflussreichen Bürgern und der örtlichen Presse will sie diesen Umweltskandal an die Öffentlichkeit bringen und einen Neubau der Wasserleitungen erreichen. Doch die Bürgermeisterin der Stadt, ihre Schwester Pia, will die für die Gemeinde skandalöse Enthüllung mit allen Mitteln verhindern. Der Umbau würde Millionen kosten, die Steuerzahler immens belasten und den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zerstören.

Aus dem Konflikt zwischen den beiden Schwestern entwickelt sich ein erbitterter Machtkampf. Und obwohl Thea anfangs noch mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen Journalisten und Lobbyisten hinter sich formieren kann, weiß ihre Schwester diese auf ihre Seite zu ziehen. Gewinn, Karriere und Macht, das sind die stärkeren Argumente, die schnell die „Wahrheit“ ins Abseits drängen. So ist die Einflussnahme der Mächtigen auf die Bürger im vollen Gange. Masse macht Wahrheit. Die aufgestachelte Menge versteht sich als sittenhafte Demokratie. Und die Hetzjagd beginnt…

Es ist ein Mechanismus, der immer wieder greift: Mitpöbeln ist leichter als denken, mitlaufen einfacher als gegen den Strom zu ziehen. Wenn es um die Beschneidung eigener Vorteile geht, wer denkt da noch an Gerechtigkeit, Wahrheit und Gleichheit? – Selbst wenn man genau diese Schlagwörter für sich zu nutzen weiß. Jeder wird sich rasch selbst zum Nächsten; ohne in der Menge der Eigennützigen irgendwie aufzufallen.

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Mobilisierung zur Wahrung zynischer Selbstgefälligkeit
So braucht es nicht lang, um von oben nach unten die Bürger des „heilen“ Städtchens umzudrehen. Und eine steht gegen alle: Thea, die sich auf den Weg gemacht hat, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen und den korrupten Gepflogenheiten im Ort das Handwerk zu legen – koste es, was es wolle. Je eisiger der Gegenwind, desto gefestigter ihr Idealismus; und ihr Kampf gegen die aufgepeitschte Gesellschaft. Bis es zur öffentlichen „Hinrichtung“ kommt…

Die vierte Regiearbeit von Katja Lillih Leinenweber am Theater am Schlachthof hat es in sich. Was hier locker amüsant beginnt und fröhlich beschwingt in den Abend führt, gewinnt im Laufe beständig an Schärfe und spitzt sich gekonnt – fast unmerklich – drastisch zu. Bis sich das „Elend“ mit einem Paukenschlag in voller Bedrohung und grinsender Überheblichkeit zeigt. Doch da ist es längst zu spät, der selbstgerechte, manipulierende Machtapparat samt aufgewühltem Mob ist nicht mehr auszubremsen. Plötzlich sind alle mittendrin; auch die TAS-Besucher – im Spiel, im Wegsehen, wie im echten Leben.