Auftaktpremiere der Intendantin am RLT mit „Corpus Delicti“ : Entmündigtes Dasein für gesundes Dabeisein

17. Oktober 2016 | Von | Kategorie: Aktuelles

Nie mehr krank sein. Keine Schmerzen haben. Fit und vollkommen sein. Das ist der gesunde Mensch von morgen. Leiden war gestern. Wer will das schon? Die „Methode“ macht es möglich. Nur jeder muss mitmachen, damit der gesunde Staat funktioniert. Fehlstellen schaden dem System, müssen eliminiert werden. Was aber, wenn der Mensch die Schwachstelle ist? Die konsequente Antwort erhellt sich in dunkler Utopie; einer Vision, gewachsen aus heutigem Körperkult und Anti-Aging-Zeitalter – und dem menschlichen Streben nach Perfektion. Juli Zeh hat daraus erst ein Theaterstück und später einen Roman verfasst. Bettina Jahnke bringt das betörende Werk auf die Neusser RLT-Bühne.

Wir sind im Jahr 2057. Die Welt ist sauberer als je zuvor: kein Schmutz, keine Keime, keine Viren. Gesundheit ist das oberste Gebot. Ideologien und Religionen sind ausgemerzt. Der „entgötterte“ Himmel strahlt hell. Die Vernunft regiert nach den Maßstäben der „Methode“. Mit Urinproben, Fitnessplan und gelenktem Partner-Matching hat sich der Mensch zur Höchstform optimiert; seine Leistung, seine Fortpflanzung und sein Leben. Gefühle sind Störfaktoren.

Mia Holl ist Naturwissenschaftlerin und Rationalistin, sie passt ins Gefüge. Nur ihr Bruder ist anders. Ein Philosoph, einer, der die Welt hinterfragt. Einer, der dem Funktionalismus den Pragmatismus entgegenstellt und das Dasein nicht mit reinem Hiersein verwechseln will. Eine Art „Spinner“ in der modernen, bestmöglich aufgestellten Welt. Denn Moritz verlässt absichtlich die Hygienezonen, raucht – d.h. inhaliert bewusst toxische, streng verbotene Substanzen – und strebt nach Liebe. Ein Träumer. Einer, der es nicht weit bringen wird. Der es nicht will. Den man nicht will.

So wird er des Sexualmordes beschuldigt, inhaftiert und – obschon er seine Unschuld beteuert – verurteilt. Als er sich umbringt, kippt Mia aus der glattlaufenden Bahn. Sie fängt an, Fragen zu stellen und „privat“ zu denken. Sie kommt ihren Fitness- und Meldeverpflichtungen nicht mehr nach und wird auffällig. Sie funktioniert nicht mehr. Eine Hetzjagd beginnt. Und ein Kampf David gegen Goliath: Mia gegen den allgegenwärtigen Staat.

Die Welt ist sauber; der Mensch ein Genie…
Das Buch hat einen Vorteil zum Bühnenstück, es lässt in viele Ecken blicken und beflügelt die Fantasie. Solardächer speisen die Stromversorgung, stillgelegte Industrieruinen sind Kulturstätten. Überall gepflegtes Grün. Alles geordnet. So mag es anfangs gar nicht nur bedrohlich sein, sondern eher die Konsequenz unseres eigenen Strebens. Eine Art Selbstläufer, indem der Mensch die Menschheit optimiert und sich selbst als Schwachstelle entlarvt. Denn er ist es, der letztendlich nicht fehlerlos ist, wie die Dinge, die er schafft. Oder ist das System auch nicht vollkommen? Sondern ist Geschichte Gegenwart, das heißt: Jedes System ist nur Utopie und ein Mechanismus, der sich am Ende selbst zerstört. Und den Mensch gleich mit.

Das ist das Spannende an Zehs Werk, die Frage, wo die Reise hingeht und was der Mensch mit sich selber macht. Das mag sich nach Science-Fiction anhören, ist aber eher eine philosophische Betrachtung auf den Mensch. Das auf die Bühne zu bringen, ist kein Leichtes.

Bettina Jahnke geht hier beherzt ans Werk, strafft das Stück und setzt deutliche Akzente: Weiß für die kühle Justiz, Schwarz für den vernichtenden Agitator Kramer und Rot für die Leidenschaft der „fiktiven Geliebten“. Mias blaue Kleidung steht für Uniformität und Moritz brauner Pullover für Naturverbundenheit. Die Stickjacke, die Zehs Richterin noch unter der Robe trägt, die gibt es hier nicht mehr. Auch Starjournalist Heinrich Kramer, der bereits Hetzjagd auf Moritz machte und nunmehr Mias Gegenspieler ist, gestaltet sich weniger als intellektueller Medienmann, sondern mehr als scharfzüngig kalkulierender Staatsschutz. Für seine Denunziation braucht er keine Talkshows mehr, sondern transportiert seine Hetze direkt per riesiger Video-Leinwand in den Zuschauerraum. Der Staat ist überall. Der Mensch unter stetiger Obacht.

…nur vergisst er aufzuhören, wenn er sich selbst übertrifft?
Durch die Fokussierung verflüchtigt sich allerdings das Gefühl von Realität; das Bewusstsein, wir sind nicht in einer vagen Fiktion, sondern in der Welt, die wir uns im Hier und Jetzt gerade selbst im Fundament angießen. Das Mitgefühl der sonst so kühl rationalen Richterin, das Fehlen der Gehirnwäsche und die Möglichkeit der Ruhe, somit die Gewährung des ersten Widerstandes, erklären sich nicht leicht aus dieser auf die Spitze getriebenen Szenerie. Der Automatismus der Entwicklung baut sich hier einen anderen Weg. Er nährt sich aus Mia. Sie ist das System, sie erklärt es, kämpft um dieses, stellt es in Frage und versucht es auszuhöhlen. Sie ist der Mensch, der sich das Optimum baut, sich diesem unterwirft und es letztendlich bekämpft, weil er sonst sein Menschsein verliert.

So steigert sich das Spiel, läuft kurz vor Schluss zur Höchstform auf: im Zweikampf zwischen Mia (Linda Riebau) und Kramer (Andreas Spaniol); im Duell zwischen Kopf und Körper, Vernunft und Leidenschaft, System und Mensch. Gebaut in zwei Personen, gefochten innerhalb jeder einzelnen.

Am Ende bleibt dem Mensch nicht einmal mehr die Wahl seines Todes, denn Märtyrer gibt es nicht. Nicht in diesem System. Ein Griff des Systems auf den Mensch, der das System schon lange nicht mehr im Griff hat. Das Kommende erklärt sich aus dem Vergangenen, das Vergangene aus dem Kommenden. Den Ausweg hat die Menschheit sich selbst zugebaut.