Saisonstart am Rheinischen Landestheater – Wenn die Welt aus den Fugen gerät

8. September 2016 | Von | Kategorie: Neusser Kultur

„Tapferkeit“ heißt das Motto der startenden Spielzeit 2016/17 am Rheinischen Landestheater. Eine Tugend, die in heutiger Zeit antiquiert klingt und nicht zwangsläufig positiv. Zivilcourage ist die Übersetzung fürs Hier und Jetzt. Das Thema zu durchleuchten, durchaus zeitgemäß. Stoff gibt es hierzu reichlich. Die Auswahl auch entsprechend reizvoll: Los geht es am 10. September mit der Intendanteninszenierung „Corpus Delicti“ von Juli Zeh; Ibsens „Baumeister Solness“, Steinbecks „Jenseits von Eden“ und Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ folgen. Gespannt darf man auch auf die Interpretation von „Jenny Jannowitz“ des jungen, aufsteigenden Autors Michel Decar sein. Bühne frei für eine vielversprechende Saison.

Der Jammer mit der Menschheit ist, dass die Klugen feige, die Tapferen dumm und die Fähigen ungeduldig sind. Das Ideal wäre der tapfere Kluge mit der nötigen Geduld“, so ein Zitat von Truman Capote. Ein Ansatz, über den es sich lohnt nachzudenken. Tapferkeit ist ein großer Begriff. Erörtern lässt er sich nur gekoppelt an Mut, Gerechtigkeit und an Werteverständnis. Entschlossenheit, Forschheit und Furchtlosigkeit gehen mit ihm einher. Heldentum, Tollkühnheit und Heroismus ebenso. Immanuel Kant verleiht der Tapferkeit die Tugend, indem er sie in klare Beziehung setzt: „Tapferkeit ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun.“ – Bleibt die Frage nach dem „ungerechten Gegner“ und dem, der das zu beurteilen vermag. Tapferkeit ist eine Gabe, der es lohnt näher nachzuspüren; im Krieg, im Terror und im Alltag. Auch gerade im Leben, das läuft, aber ohne selbstbestimmt gelenkt zu werden. Gesellschaft, die reglementiert wird; oder aus den Fugen gerät. Emanzipation und Behauptung – in der Politik, im Job und in der Beziehung. Machen statt machen lassen, damit kommt die Tugend Tapferkeit in der Gegenwart an. Die Relation ist entscheidend. Dies zu durchleuchten zieht den Faden durchs neue Programm im Rheinischen Landestheater.
„Die Tugend Tapferkeit ist die Fähigkeit, gegen alle Widerstände und im Extremfall unter Einsatz seines Lebens, für übergeordnete Werte oder Ziele zu kämpfen.“ (RLT-Intendantin Bettina Jahnke)
Die Auftaktpremiere ist der Gegenwart schon voraus: Deutschland im Jahr 2057. Der perfekte Überwachungsstaat zum Wohle jedes Einzelnen ist Wirklichkeit geworden. Niemand erinnert sich an körperlichen Schmerz – Krankheit ist ein historisches Phänomen geworden. Es gilt Wohlbefinden und Sicherheit für alle. Das Land ist in Hygienebereiche eingeteilt. Drogen und Rauschmittel sind streng verboten und allgemeine körperliche Fitness ist Pflicht. Partnerwahl und Fortpflanzung sind von der Obrigkeit streng reglementiert. Sämtliche Aktivitäten der Bürger werden minutiös überwacht.
Die Welt ist aufgeklärt – nein „geklärt“. In ihr die Biologin Mia, als ein Teil des Systems. Bis ihr Bruder im Zuge der allgegenwärtigen Kontrolle als Sexualmörder überführt wird; und sich ermordet. Und Mia zu denken beginnt. Und schon ihr Versuch, sich dafür ins Private zurückzuziehen, als Vergehen gewertet wird. Und die Hexenjagd beginnt.
Die erfolgreiche Gegenwartsautorin Juli Zeh hat in der Tradition von George Orwells „1984“ ein düsteres Szenario entwickelt, in dem die „Methode“ den Menschen optimiert und die Herrschaft eines totalen Staates dem Individuum alle Rechte und Interessen abspricht. Die Tapferkeit ist hier der Mut, aufzubegehren. Doch aufbegehren wurde abgewöhnt.
„Tapferkeit, Zivilcourage und Mut sind Haltungen, die prinzipiell bewundert werden – in ihrer extremen Form und für das falsche Ziel verbreiten sie Angst und Schrecken.“ (Bettina Jahnke)
Tapferkeit und Mut, sie gehören zusammen, im Heldenepos der „Ilias“ von Homer genauso wie in „Ich, Moby Dick“, dem Jugendstück dieser Saison. Der Klassiker, diesmal von Schiller, der in „Die Jungfrau von Orleans“ einer Figur nachgeht, die sich von höherer Mission getrieben sieht und die Menschen und Mächte polarisiert; als Lichtgestalt für die einen, als Dämon für die anderen.
Bei Henrik Ibsens „Baumeister Solness“ ist es die Angst, die den Protagonisten treibt, der nicht den Mut aufbringt, in die Abgründe seine Lebens zu schauen. Bei Michel Decar liegt die Geschichte anders. Er hat den gängigen Begriff des flexiblen Menschen beim Wort genommen. Sein Held ist ein Mann ohne Eigenschaften, aber einer, der permanent auf der Suche nach verlorener Zeit ist. Sein Stück “Jenny Jannowitz“ verschiebt die Koordinaten und entwirft einen satirischen Blick auf die Flüchtigkeit der Zeit, die anhaltende Beschleunigung und die Selbstoptimierung.
Um tapfere Helden wie auch um ihre Antipoden – Fanatiker, Größenwahnsinnige und Leichtsinnige – geht es in dieser Saison. Auch darum, ob der Mensch gut oder böse ist und ob er die Wahl der Entscheidung hat. Eine Frage, der sich die amerikanische Familiensaga „Jenseits von Eden“ über drei Generationen widmet. Der Bogen ist weit gespannt in dieser Spielzeit und angereichert mit attraktiven Stücken, was schon der Saisonauftakt beweist.