Die Tragödie wächst im Kopf

15. April 2015 | Von | Kategorie: Neusser Kultur

Das fliegende Kind“ von Roland Schimmelpfennig im Studio des Rheinischen Landestheaters

Er ist einer der meistgespielten Gegenwartsautoren. „Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes“ haben wir hier schon von ihm gesehen. „Das fliegende Kind“ von Roland Schimmelpfennig ist nicht weniger ergreifend wie faszinierend; in der Art, wie es sich baut, nicht was es spielt. Bausteine für die Vorstellungskraft. Die Geschichte ein Anhaltspunkt für die Dimension. Anna-Lena Kühner hat das 2012 am Wiener Burgtheater uraufgeführte Stück auf die Bühne des RLT gebracht. Vier Schauspieler besetzt sie statt sechs. Weniger ist mehr: Hier geht es auf. Toller Einstand!

Es ist November, die Jahreszeit trist und grau. Dunkelheit regiert. Der Ort, eine Großstadt, am St. Martins-Tag. Kinder mit ihren Eltern in einer Kirche. Die Kleinen singen, die Augen und Münder weit aufgerissen. Gleich geht es los, beginnt der große Umzug durch die Straßen, durch die Finsternis, mit bunten Laternen. Gerührte Eltern. Stolz. Ängstlich. Denn es ist ein Durcheinander jedes Jahr. Ein quirliger Haufen, der sich lachend und feixend durch die Stadt schiebt, entlang der Straßen, in den Park, zum Fluss. Die Lehrerinnen in heller Aufruhr, vor dem großen, schwarzen Auto. Jeder Monat ein Kind. Tod. Die Gefahr ist von Anfang an dabei, trotz lieblichem Gesang und leuchtenden Augen; trotz der Achtsamkeit der Eltern. Und dann ist da noch das ganz normale Leben. Jeder hat doch seins, etwas eigenes. Die Mutter, mit der Zweijährigen auf dem Arm, die sie zwischenzeitlich ihrem Mann übergibt, um mit einem anderen, dem mit schwarzem, vollem Haar, zu flirten. Ihr Mann, der schnell weg muss, aus der Kirche, noch bevor der Umzug beginnt, in den Vortrag der betörenden Brasilianerin, der mit dem fließenden, engen, grauen Kostüm, die ihn schon einmal angelächelt hat; während ihres Vortrages über den Regenwald.

Fragmente für die Fantasie

Roland Schimmelpfennigs Stück „Das fliegende Kind“ ist eine Tragödie, die sich von Anfang an offenbart. Der kleine Junge, der sein Spielzeugauto aus der Hosentasche verliert, während des St. Martins-Umzugs, ein paar Schritte zurück ins Dunkle geht, weil es dort liegt. Doch das große Auto, das ihn ergreift, sieht ihn in der Dunkelheit nicht. Es fährt „automatisch“, schwarz und mächtig. Der, der in ihm sitzt, hat es noch nicht im Griff, hat es gerade erst vom Händler erworben. Er weiß noch nicht einmal, wie er die dröhnende Musik ausschaltet; merkt nicht, dass er ohne Licht fährt. Denn er hat es eilig, muss zu dem Vortrag über tropisches Grün und feuchte Welten, und bizarre Vögel. Eine Welt, die bedroht ist.
Der Zuschauer, er ahnt schnell, was passiert, was unausweichlich ist. Die Mutter, der Vater, das Kind – der Tod. Aber die Geschichte, sie baut sich, wie sollte es auch anders bei Schimmelpfennig sein, aus Fragmenten. Sätze, die sich wiederholen. Einzelne Worte. Kurze Szenen, die Teile des Geschehens wiedergeben. Keine feste Figur für die Rollen, jeder Schauspieler übernimmt ein Stück der Geschichte, ist Kind, ist Elternteil, Mitmensch, springt in die eine oder andere Sequenz. Und doch dreht es sich vornehmlich um die zwei Personen, die Eltern, die ihr Kind verlieren. An ihnen wird die Tragik des Lebens aufgehängt. Auch die Frage: Wer ist schuld?

Die Bühne ist schlicht, schwarze Hocker, acht Lampen, wie Glocken. Die Szene: in der Kirche, auf der Straße, oben im Glockenturm und unten bei den Bauarbeitern, unter der Straße. Roland Schimmelpfennig reicht es einfach. Kompliziert ist die Welt allemal. Es sind nicht die großen Bühnenaufläufe und verstrickten Handlungen, die einen ins Geschehen reißen. Vielmehr die Kunst, sich in den Wort- und Szenenfragmenten selbst zu begegnen. Zwei sagen den gleichen Satz. Zwei sind die gleiche Person. Keiner trägt die Verantwortung. Jeder könnte es sein. Wie die Menschen aussehen, was sie antreibt, jeder Zuschauer entwickelt das in seinem Kopf. Es ist, als hätte man das schon gehört und erlebt. Als kenne man die, denen es passiert. Die Fantasie baut die größeren Bilder. Den eigenen Horror. Alles ist möglich. Auch das fliegende Kind. Das, als es vom Auto erfasst wird, kurz auf der Kirchturmspitze innehält und die Welt von oben betrachtet, bevor es brutal auf dem Asphalt aufschlägt.

Wörter auf die eigenen Wunden

Schimmelpfennigs Theater ist Schauspiel der anderen Art. Anna-Lena Kühner, die am Rheinischen Landestheater zum ersten Mal Regie führt, hat ihn gut erkannt. Viel braucht sie nicht, um ergiebig zu erzählen. Sie reduziert sogar noch mehr als der Autor. Wo bei Schimmelpfennig sechs Darsteller auf der Bühne stehen, kommt sie mit vier aus. Wo bei ihm sich drei Paare herauskristallisieren, die Eltern mit 40, 50 und 60 Jahren, vor und nach dem Unfall, sind ihre Darsteller fast wahllose Platzhalter einzelner Rollen, die einen Teil der Geschichte platzieren. Wunderbar wie sich ein fast leerer Raum mit explodierendem Inhalt füllt. Mit Leben. Mit Alltag. Mit Unzulänglichkeit. Sensibel wie punktgenau transportiert durch die bestechende Leistung der Darsteller: Rainer Scharenberg in Höchstform und Hergard Engert, Philipp Alfons Heitmann und Ulrike Knobloch nicht weniger überzeugend. Prima!

(Nähere Infos unter www.rlt-neuss.de)