„Der Krieg und das Mädchen“ von Jürgen Seidel

12. März 2014 | Von | Kategorie: Neusser Kultur, Neusser Leben

Ein Jugendroman über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Geschichtlich bedeutende Ereignisse in einer fesselnden Romanhandlung heute erlebbar und nachvollziehbar zu machen, das ist die Kunst des Neusser Autors Jürgen Seidel. Gerade ist sein neuer Roman „Der Krieg und das Mädchen“ im Münchener cbj-Verlag von Random House erschienen. Diesmal führt er seine LeserInnen zurück ins Jahr 1914. Mitten hinein in die Zeit kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mitten hinein in das Leben einer Gruppe Teenager kurz vor dem Erwachsenwerden.

„Seit Wochen lag etwas in der Luft. Man las und hörte hier und da ulkige Reime. Jeder Schuss ein Russ´. Straßenbahnen wurden angehalten und Offiziere herausgezerrt, nur um sie unter Hurra-Rufen in die Luft zu werfen. Jeder Brit´ ein Tritt. Erwachsene fielen einander weinend in die Arme, und Kinder marschierten in Reih und Glied über das Trottoire (…) Mila Pigeon musste jedes Mal schmunzeln, wenn sie die Kleinen sah. Aber manchmal blieb auch ein anderes Gefühl zurück: Unruhe, als gerate etwas aus dem Gleichgewicht.“

Jürgen Seidels „Mädchen“ Mila spürt sehr genau die Spannung, die plötzlich über dem scheinbar normalen Leben liegt. Da ist einerseits die seltsame Begeisterung vor allem der Erwachsenen für einen immer wahrscheinlicher werdenden Krieg. Andererseits ist da aber auch ein gewisses Gefühl der Bedrohung und Sorge, das sie nicht ignorieren kann. Und tatsächlich wird ihr Leben wie das aller anderen bald stärker aus dem Gleichgewicht geraten, als sie sich je hätte vorstellen können. „Mir kam es auf die Perspektive der Jugendlichen an“, erklärt Jürgen Seidel. „Sie sind ein Ensemble von Betroffenen einer Sache, von der sie noch nichts wissen. Die Figuren ahnen nur, dass etwas kommt.“ So ist das Thema Krieg bei den 17-Jährigen zwar stets präsent, aber – zunächst – eigentlich gar nicht so wichtig. Die Hauptfiguren Mila Pigeon und Fritz Wanlo sind so wie ihre Freunde mit ganz anderen Dingen beschäftigt: erster Liebe, Freizeit, Schule, Freundschaften, Streitereien, Selbstfindung und Träumereien. Sie sind eben ganz normale Teens.

Liebe und andere Probleme

Mila ist nämlich in Fritz verliebt und Fritz in Mila. Eigentlich. Denn Mila spürt, dass Fritz etwas vor ihr verbirgt. Und damit hat sie Recht – Fritz ist verwirrt. Er mag Mila wirklich, aber noch mehr fühlt er sich plötzlich zu seinem besten Freund Rasmus hingezogen. Ist er etwa „krank“? „Homosexualität war damals eine brisante Sache“, so der Autor. „An ein Outing war gar nicht zu denken. Das lag an der damaligen Unfähigkeit, damit umzugehen, aber auch an der allgemeinen Unwissenheit“. So gerät seine Figur Fritz in höchste emotionale Not und weiß sich schließlich nicht anders zu helfen, als immer sehnlicher den Krieg herbei zu wünschen, damit ein freiwilliger Fronteinsatz ihn „heilen“ möge. Seine Freundin Mila dagegen hat bald ganz andere Schwierigkeiten: Als Tochter einer Deutschen und eines (verstorbenen) Franzosen wird sie aufgrund ihres Nachnamens immer öfter zur Zielscheibe für Anfeindungen und Beleidigungen. Wirklich bedrohlich wird ihre Situation, als sie Opfer einer persönlichen Intrige wird, die aber politische Dimensionen annimmt. Plötzlich steht der Verdacht des „Hochverrats“ im Raum, und ihre Mutter wird aus unerklärlichen Gründen inhaftiert. Die beiden Frauen werden zu Spielbällen eines heftigen Machtkampfes, erhalten dann aber doch von unerwarteter Seite Hilfe.

Gegen den Krieg

Jürgen Seidel versteht es meisterhaft, diese persönlichen Schicksale vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse zu entwickeln. Bildreich versetzt er den Leser in das Berlin im Sommer 1914, lässt die Atmosphäre in den Straßen, den Cafés und an den Schulen aufleben; sogar seine Sprache hat er dieser Zeit angepasst: „Die Sprache damals war gestelzter, steifer. Man soll mit der Nase darauf gestoßen werden, dass das eine alte Zeit ist“, sagt er. Das macht seinen Roman sehr authentisch, aber fordert den Leser – den jungen wie den erwachsenen – auch heraus. Man muss schon bereit sein, sich auf diesen Ton einzulassen, der sich allerdings auch bemerkenswert abhebt von der allgemeinen Sprachvereinfachung in vielen Medien heute. Es spricht für sich, dass Seidels Romanprojekt von der Kunststiftung NRW unterstützt worden ist. Ganz klar ist die Botschaft des Autors: „Es ist ein Anti-Kriegsbuch. Es zeigt wie die Jugend dazu verführt wird.“ Die jungen Männer aus Milas Clique lassen sich nämlich am wenigsten aus politischer Überzeugung und reifer Überlegung an die Front schicken, sondern weil es die Erwachsenen so wollen, weil sie das „wahre Leben“ dort zu finden hoffen, weil sie sich „Heilung“ wünschen oder einfach, weil sie mit ihren Freunden zusammenbleiben möchten. „Es soll zeigen, aus welch läppischen Gefühlen und Überlegungen man in einen Krieg geraten kann“, so Seidel. Gelungen ist ihm ein facettenreicher Roman für anspruchsvolle junge LeserInnen, der aber auch ein erwachsenes Publikum ansprechen dürfte.