Bewegt euch, Kinder!

31. Oktober 2013 | Von | Kategorie: Neusser Leben, Neusser Sport

Neu ist die Einsicht nicht, dass sich Vorschulkinder bewegen müssen. Auch nicht neu ist das Konzept zum „Anerkannten Bewegungskindergarten.“ Zwanzig Jahre kaum beachtet ist es heute wichtiger denn je. Eltern, Erzieher und Sportvereine Bitte kümmert euch darum.

„Bewegung wird innerhalb der kindlichen Entwicklung eine immer größere Bedeutung zugeschrieben. Zahlreiche entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse zeigen die Bedeutung der Bewegung und Wahrnehmung für eine stabile frühkindliche Entwicklung in den Bereichen Emotionalität, Sprachentwicklung, Sozialverhalten und Kognition auf…“ (Wikipedia, siehe Psychomotorik) Gesellschaftliche Entwicklungen wie Kinderarmut, wachsender Medienkonsum, „Stubenhockern“, falsche Ernährung und Bewegungsmangel verstärken die Defizite. Oder frei nach den Worten Martin Limbachs vom Kreis-Sportbund: „Wer nicht greifen lernt begreift später nichts. Wer nicht lernt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten sicher zu bewegen, bewegt später selten etwas.“

Bisher gibt es erst drei anerkannte Bewegungskindergärten in Neuss. Den St. Pius Kindergarten, die Ev. Kita Reuschenberg und die AWO Villa Purzelbaum. Das muss nicht heißen, dass Kitas mit anderen Schwerpunkten Bewegungsprogramme vernachlässigen oder Kitas mit hohem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund nicht die Sprachförderung als wichtigstes Ziel sehen dürfen. Aber in Zeiten, wo es immer weniger vor die Tür zum Spielen und Toben geht, muss dem Bewegungsdefizit etwas entgegen gestellt werden. Viele von uns, die in den 50ern, 60ern oder 70ern ihre Kindheit verbracht haben, waren ständig draußen, kamen nur zum „Essen fassen“ nach Hause und wurden bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause „gerufen“. Heute sehe ich oft „Angst“-Muttis ihre Sprösslinge maßregeln: „Sei vorsichtig, tu das nicht, tu dir nicht weh, mach dich nicht schmutzig…“ Wenn diese Kinder nicht wenigstens in der Kita ihre Grenzen erfahren und auch mal einen „Blauen Fleck“ einsammeln, geht deren körperliche Souveränität auf alle Zeiten verloren. Ein Milchzahn bleibt ein Milchzahn, selbst wenn er auf „sportlichem Weg“ verloren geht.

Zurück zu den Einrichtungen. Die AWO Purzelbäumer sind so etwas wie Pioniere, vom Träger bereits zur Eröffnung im Jahr 2000 als Bewegungskindergarten geplant und seit 2002 zertifiziert. Leiterin Fr. Althoff hat diesen erzieherischen Schwerpunkt seitdem keine Sekunde bereut. Der ursprüngliche Lehrgang und die Schulungen alle zwei bis drei Jahre werden positiv empfunden. Sie erweitern den Horizont. Man ist gespannt auf den Erfahrungsaustausch mit anderen Bewegungskitas, der zweimal im Jahr stattfindet und viel Input bringt. Die Kinder der Villa Purzelbaum sind alltäglich in Bewegung. Die Programme sind Bestandteil jeglicher Aktivität, aller Feste. Gut für die Kids, schön für ihre Zukunft.

Alle anerkannten Bewegungskindergärten kooperieren eng mit dem Sportbund, pflegen eine Patenschaft mit einem Sportverein und motivieren die Eltern. Geschultes Personal in der Kita und die Kompetenz der sportlichen Übungsleiter sorgen dafür, dass Familie und Sportvereine sich näher kommen, ohne das es gleich um Breiten- und Leistungssport geht. Martin Limbach: „ Kinder zwischen Drei und Sechs haben unheimlich viel Spaß an Bewegung. Für sie sind Kategorien wie Mannschafts- oder Leistungssport noch uninteressant. Aber sie sind dankbar für Aufgaben und empfänglich für Regeln.“

Im Neusser St. Pius Kindergarten wird seit 2012 zertifiziert „bewegt“. Was sie motiviert hat, diese Qualifizierung zu erstreben, frage ich die Leiterin Fr. Nöhring: „Die Bewegungsarmut der Kinder wurde immer augenscheinlicher. Wir hatten das Gefühl, wir müssen was tun.“ Nicht nur sie und die Gruppenleiterinnen, sondern das gesamte Personal durfte sich qualifizieren. Seitdem steht alles unterm Stern der Bewegung, sei es der Aufenthalt in der Einrichtung, auf Ausflügen oder bei den Festen. Kooperiert wird mit dem größten Neusser Sportverein, der TG Neuss. Ein Plus in der Elternarbeit: Einer von zwei Elternabenden im Jahr dient im Rahmen einer Kooperation mit der Physiotherapeutin Claudia Kettler dazu, dass die Kinder nicht nur in der Einrichtung, sondern auch „privat bewegt“ werden. On Top wird das Team durch eine Ökotrophologin verstärkt. Gesunde Ernährung ist fester Bestandteil des Gesamtkonzeptes. Perfekt. Frau Nöhrings Dank für den Rückhalt und die Unterstützung geht an den Träger, der Katholischen Kirchengemeinde Neuss Mitte und Oberpfarrer Assmann. Gebe ich mal so weiter.

Die Leiterin der dritten Einrichtung, der Ev. Kita Reuschenberg, habe ich leider nicht persönlich erreichen können. Aber ich gehe davon aus, dass auch deren Erfolgsstory den anderen beiden in nichts nachsteht.

Die Glorreichen Drei, wie schön.. Aber Neusser Alltag ist das nicht.

Eher das, was mir eine erfahrene Erzieherin in einem vertraulichen Gespräch schildert. Sie arbeitet in einer aus ihrer Sicht durchschnittlich ausgestatteten Kita. Die Einrichtung hat 50 Jahre keine wesentliche Modernisierung erlebt. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund liegt bei gut 40%. Deren Eltern beschränken ihre Mitarbeit auf die Dankbarkeit, dass man den Kindern Deutsch lehrt. Wenigstens das. Die „einheimischen“ Eltern machen sich rar. Die Personaldecke ist dünn, zu dünn, um sich via Fortbildung z. B. die Sprachförderung zertifizieren zu lassen. Was sie bedauert. Bewegung und Fitness wird nach bestem Wissen und Gewissen gefördert: „Ich sehe doch seit Jahrzehnten in meinem Beruf, dass die, die sich sicher bewegen können, in ihrem späteren Leben souveräner sind.“ In ihrer Einrichtung ist man stolz, mit den Kindern regelmäßig schwimmen zu gehen. Ihre Kinder werden nicht ertrinken, wenn man sie ins Wasser wirft. Insgesamt ist sie froh, es so gut getroffen zu haben. In anderen Stadtteilen sei es schlimmer.

Szenenwechsel. Die Bonsai Karate Gruppe der Lebenshilfe im Familienzentrum „Sonnenschein“ in Grimlinghausen wurde mir als Fotomotiv wärmstens ans Herz gelegt.

Fröhliche kleine Ninja-Kids. Allerdings in einer Einrichtung mit fehlender Zertifizierung. Dem Träger „Lebenshilfe“ sind Inklusion, Eltern- und Kind-Gruppen und vieles andere wichtig. Trotzdem hat die Leiterin Fr. Rienow-Eifert u. A. ein Modul der Bewegungsförderung mit Nachdruck beim Stadtsportverband und dem Sportjugendchef im Kreis, Rainer Bader, eingefordert. Er erzählt: „Ich habe das eigentlich nur übergangsweise selbst machen wollen. Aber inzwischen mache ich das seit 4 Jahren. Die Kinder sind mir einfach ans Herz gewachsen.“

Ein Vorteil dieser Gruppe ist, dass sie weniger Alters-Homogen sein muss. In diesem Fall sind die „Senioren“ schon Zweitklässler. Ein Nachteil ist vielleicht das fehlende „Ganzheitliche“. Aber eine „kleine Lösung“ ist schon groß. Liebe Eltern und/oder liebe Kitas, haken sie doch mal nach, denn Rainer Baader hat mir gesagt: „Kein Raum, kein Platz, keine Geräte in der Einrichtung? Not macht erfinderisch. Wenn es sein muss, machen die Übungen auf dem Flur. Das bekommen wir hin.“

Mich hat übrigens die entspannte Spezialistin Daniela Ingenfeld vom Kreis-Sportbund mit diesem Thema umfassend vertraut gemacht und gebeten dafür zu werben: „Wir brauchen mehr Sport-Vereine, Sportstudenten, interessierte Eltern und Erzieher, die mitmachen. Ich bin für sie da.“ Informieren sie sich.

Daniela.Ingenfeld@rhein-kreis-neuss.de Tel.(Mo. – Mi.): 02181-6014069