Die Kehrseiten des Schützenfestes

30. September 2013 | Von | Kategorie: Neusser Leben, Schützenfeste

Flaschen, Scherben, Kippen und von dem Rest will man eigentlich gar nicht schreiben. Was die Männer der AWL jede Nacht von Asphalt und Grünfläche entfernen, damit wir Neusser am nächsten Tag wieder in einer sauberen Innenstadt Schützenfest feiern können, ist alles andere als schön. Ein Fakt, der die Tätigkeit der Truppe umso wichtiger macht. Wer will so etwas schon freiwillig tun? Abgesehen von einem „DerNeusser“-Reporter…

 2.30 Uhr. Umbarmherzig wirft mich die Weckfunktion meines Handys von der Couch. Das Bett blieb kalt, ich hatte zu viel Respekt vor der Müdigkeitsschwere, die mich um diese Zeit zurück in mein Kissen drücken würde und meinen Einsatz bei der AWL evtl. hätte gefährden können. Den wollte ich nicht verpassen, hatte ich mir im Vorfeld doch bereits Kommentare von „du hast sie nicht mehr alle“ bis „spinnst du?“ und „du Idiot, die beschimpfe ich immer“ anhören müssen. Genau aus diesem Grund wollte ich es wissen: was sind die Kehrseiten des Neusser Bürgerschützenfestes? Bevor ich mich auf Antwortsuche beim Straßenreinigen begebe, bin ich erst einmal selber dran: Dusche an, Zahnbürste scharf geschaltet, rein in meine leuchtend-orange AWL-Kluft, die ich bereits vor Tagen ausgehändigt bekommen hatte, und los.

25 Mann unterwegs im Namen des sauberen Schützenfestes

Die AWL befindet sich auf der Moselstraße, direkt hinter dem Gebäude der Stadtwerke Neuss, auf deren Parkplatz in diesen frühen Samstagmorgenstunden nichts los ist. Dank Pressekonferenzen und -terminen bei der swn kenne ich mich aus, visiere wie immer einen der vorderen Plätze an und parke. Die Tür-Knöpfe sind noch nicht ganz im Schließmodus eingerastet, da blafft es aus einem vom Hof fahrenden Transporter hinter mir: „Ne, Jung! Dat sind unsere Parkplätze, der Wagen muss da weg! Euere Parkplätze sind hinterm Haus!“ Unsere Parkplätze? Ach ja, ich trage ja Orange. Ich schaue dem Gemecker aus dem Fahrzeugfenster des swn-Transporters hinterher und wieder zurück auf den nahezu verwaisten Parkplatz: hier könnten sich gerade locker 200 Personen zum Picknick niederlassen und es würde niemanden stören. Aber gut. Ich setze meinen Wangen weg und parke vor dem Gebäude der AWL, wo auch schon meine Kollegen auf Zeit zusammen stehen. Ich nähere mich der Gruppe und frage, wo ich denn Oliver Negele finde. Die Gespräche verstummen, Augenpaare mustern mich. Aber ich trage Orange. „Der ist hinten im Büro und wartet noch auf jemanden. Den kannst Du gar nicht verfehlen. Ist so ein kleiner Dicker mit blonden Haaren!“ Das Gelächter bricht los. Ich lache mit. Den Betriebsleiter der Abfall- und Wertstofflogistik Neuss GmbH, Oliver Negele, kenne ich bereits aus dem Recherchegespräch: gut 185 cm groß, sportliche Figur, dunkle Haare. „So sind die Kollegen“, lacht er wenige Augenblicke später über den Vorfall. Seine 24 Mann starke Truppe ist abfahrbereit und mit mir ist auch der Letzte endlich da. Damit können die zwei kleinen und die drei großen Kehrmaschinen, die zwei Sperrmüllwagen, der Werkstattwagen und die beiden Lkw losfahren. Gefolgt vom Einsatzwagen Oliver Negeles, er wird den Sondereinsatz „Schützenfest“ vor Ort koordinieren.

Außerirdische zwischen Bahnhof und Wendersplatz

Ich bin den kleinen Kehrmaschinen als „Rauskehrer“ zugeteilt. Was mir begrifflich nur von hiesigen Sperrstunden bekannt ist, nimmt nach einer äußerst holprigen Fahrt auf dem Beifahrersitz der Kehrmaschine schnell andere Gestalt an. Micha Gehrhardt, 24 und an „normalen“ Tagen außerhalb des Schützenfestes als Müllwagen-Fahrer bei der AWL, drückt mir lächelnd einen Besen in die Hand. „Einfach da, wo ich mit der Maschine nicht hinkomme, rauskehren.“ Ach so. Ja, gut. Ich sehe mich um und beobachte meine Rauskehrer-Kollegen Theo Kreuels und Werner Gallas. Routiniert gehen sie mit ihren Besen in Hauseingänge, fischen Abfall aus Blumenkübeln und Baumscheiben, kehren Dreck aus engen Ecken raus. Rauskehrer halt. Die beiden Kehrmaschinen, mit Sascha Pflepsen und Micha Gerhardt am Steuer, kreisen wie aufgescheuchte UFOs um nächtliche Schilder, Ampeln, Laternen. Kurze Stopps, knappe Absprachen untereinander, weiter. Unaufgeregte Routine mit einem Tempo, das ich nicht erwartet hatte. Ich kehre mit meinen Kollegen mittlerweile per „Du“ und jage mit meinem Besen Glasscherben, Dosen, Essensreste und immer wieder Kippen, Kippen, Kippen. Dann verzweifele ich an einem Burger-Papier. „Das Zeug ist furchtbar“, meint Werner, „erst klebt es am Boden und dann ist es so leicht, dass es aufgewirbelt wird. Irgendwann nimmt man es persönlich“, lacht er und befördert das Fishburger-Papier mit einem gekonnten Schwung direkt in die rotierende Bürste der Maschine.

Da war wirklich nichts, ehrlich

Wir ziehen weiter Richtung Markt. Kaum einer der teils stark alkoholisierten Passanten nimmt merklich Notiz von uns. Die haben andere Probleme. „Jetzt gib ne Kippe, du Spack!“, wenige Meter gefolgt von „du bist so ein Schwein, hau ab!“, gekontert mit „Süße, da war doch gar nichts mit der, die ist mir voll egal, ehrlich!“ Während ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann, arbeiten Theo und Werner völlig emotionslos voran. Man merkt: so etwas geht bei ihnen links rein und rechts wieder raus. Ebenso wie Beschimpfungen. „Ja klar, die gibt es. Manche rufen ‚mach hier sauber’ und spucken uns vor die Besen oder so. Das ist schon manchmal schwierig, aber da muss man durch“, zuckt Werner gelassen mit der Schulter. Doch dann wird er für einen Augenblick emotional: „Weißt du, was das wirklich Traurige ist? In den Zeitungen steht immer ‚wir danken dem Ordnungsamt, den Johannitern, der Feuerwehr’ und was weiß ich nicht wem alles noch. Aber niemand bedankt sich dafür, dass das Schützenfest wieder sauber ist. Bei der AWL bedankt sich niemand, dabei hauen wir uns fünf Nächte um die Ohren!“ Er sieht mich mit ausgebreiteten Armen verständnislos und erwartungsvoll an. Ich halte inne, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich blicke in das Gesicht eines gestandenen Mannes, der mitten in der Nacht aufsteht, um den Dreck von Tausenden wegzumachen und dafür zum Teil auch noch angepöbelt wird. Er ärgert sich nicht über beißenden Uringestank, Müll, Spucke, Erbrochenes, blutgetränkte Tempos oder Trottel, die hinter seinem Rücken belustigt genau das wieder in der Gegend verteilen, was er gerade zusammengekehrt hat. Er möchte nur eins: Respekt. Mit Recht.

Ein Team und eine Arbeit, die Spaß macht

„Trotzdem ist das echt eine Arbeit, die Spaß macht“, spricht Theo den Punkt der Sache an. „Wir machen immer kleine Späßchen und motivieren uns gegenseitig. Das Kollegiale ist echt super. Klar, wenn mir jemand gegen die Kehrmaschine tritt, halte ich schon an und frage, was das soll. Wenn dann zurückkommt ‚ich hab halt schlechte Laune’, kann ich nur den Kopf schütteln. Solche Leute verstehen eh nichts mehr.“ Wir kommen zum Wendersplatz und treffen auf die anderen. Kirmesplatz und Rollmops-Allee sind bereits wieder „Klarschiff“. Im Zentrum des nächtlichen Müllgeschehens, dem Wendersplatz, sind alle tatkräftigen Hände gefragt. Mein Gott. Ich wate durch Scherben, Flaschen, Gläser, Unrat und nähere mich kehrend der Randbepflanzung, wo mir ein Fäkaliengestank entgegenschlägt, der Schnappatmung auslöst. Aber niemand murrt, also schlucke ich den Ekel runter. Kleine Späße und Gelächter machen die Runde. „Na, haben Sie sich das in Etwa so vorgestellt?“, tritt Oliver Negele an meine Seite. So ungefähr, ja.

Erste Hilfe für den Unterbänkler

Ich erzähle Oliver Negele von meinen nächtlichen Eindrücken am Besen, bis uns ein Kollege höflich unterbricht. „Entschuldigung, aber da liegt jemand nackt hinterm Zelt und zittert.“ Zügig, aber ohne Hektik, schlägt der Betriebsleiter sofort die angezeigte Richtung ein. Ich folge ihm. Unter einer der zahlreichen Bierbänke liegt ein ca. 20-jähriger Mann auf dem Asphalt, unnatürlich gekrümmt. Bis auf seine blaue, voll gepinkelte Unterhose trägt er nichts am Leib. Hose, Hemd und Schuhe liegen ein paar Meter weiter. Seine Augen stehen nur einen kleinen Spaltbreit offen, ansprechbar ist er nicht. Notruf. Während Oliver Negele auf die Sanitäter am Eingang des Wendersplatzes wartet, bleibe ich wie abgesprochen bei dem Alkoholisierten. „De hätt vill ze vill jesoffen!“, brüllt es mir von rechts an den Kopf. Erst jetzt fällt mir der weißhaarige Mann auf, der sich mit hochrotem Kopf inmitten der Biertischgarnituren selber munter zuprostet. Ich traue meinen Augen nicht. Er hat alle Gläser mit Bierresten auf einem Tisch gesammelt und leert diese nach und nach. Oh Mann. Dort, wo die Erft den Rhein begrüßt, einst meine Wiege stand. Langsam reicht es mir. Die Johanniter treffen ein, sie watschen und wecken den alkoholisierten Unterbänkler, richten ihn auf und setzen ihn an einen Tisch. Müde steht der Rede und Antwort, als wäre die ganze Situation ganz normal. Er würde dann jetzt nach Hause gehen. Fassungslos frage ich Theo, was sonst noch so alles passiert, was findet man während so einer Schicht noch? „Alles“, ist die Antwort, „was genau, das willst du nicht wissen.“ Der Wendersplatz ist sauber, der Markt wieder paradeparat. Es ist fast Feierabend – oder besser Feiermorgen. Die Müdigkeit kriecht meine Beine hoch, ich nehme wieder in der Kehrmaschine neben Micha Platz. Kurz vor 8 Uhr. Groggy. „Fahrt bitte noch mal zum Bahnhofsvorplatz“, dirigiert uns Oliver Negele, „und dann kommt ihr rein.“ Bahnhofsvorplatz? Da waren wir doch schon! „Ja, klar, aber sobald wir sauber gemacht haben, machen die Leute eben wieder neuen Dreck“, beantwortet Micha meine Fragezeichen über dem Kopf. „Ein paar Runden noch und dann fahren wir zurück“, schickt er beruhigend hinterher. Gut. Mit müden Basset-Augen blicke ich auf vorüberziehende, jetzt saubere Trottoires. Der Schützenfest-Samstag kann wieder mal in einer sauberen Innenstadt gefeiert werden. Nur: Ob sich irgendjemand Gedanken macht, wer dafür gesorgt hat?