Simon Stephens „Harper Regan“ im RLT – Ausbruch aus der Eiszeit

31. März 2013 | Von | Kategorie: Neusser Kultur

Harper Regan ist 41 Jahre. Eine Frau mittleren Alters, die das Leben, so wie es sich ihr darstellt, nicht mehr gehen mag. Zumindest an zwei Tagen. Einmal anhalten, einmal ausbrechen, einmal nach hinten und nach vorne sehen. RLT-Intendantin  Bettina Jahnke hat Simon Stephens eindringliches Gesellschaftsdrama auf die Bühne gebracht. Eine stille, intensive Studie über Leben und Lebensinhalt, die Wunden aufreißt, die gern verdeckt bleiben und Fragen stellt, die man nicht hören will.

                                                                                           Das Leben läuft. Mal gut, mal weniger. Wenn man es laufen lässt, dann bleibt man irgendwie im Tritt. Doch wenn man anhält, kann man anecken. Wer einen Schritt zur Seite geht, mag die Sicht, die er erfährt, nicht ertragen. War es das, was man wollte? Wehrt man sich gegen das, was eigentlich nicht geht? – Harper Regan ist gut im Tritt. Ihr Leben ist nicht leicht. Viel Schönes und Erfreuliches gibt es nicht. Ein arbeitsloser Ehemann, eine schlecht bezahlte Arbeit, ein neuer Wohnort, an dem sie kaum einen kennt. Aber es läuft. Sie hat Mann und Tochter, arbeitet für beide, denn ihr Mann kann es nicht mehr. Ihr Chef ist ein Idiot. Ihr Vater liegt im Sterben. Und sie darf nicht hin. Und plötzlich will Harper nicht mehr funktionieren. Obwohl sie nicht frei bekommt, ihr Chef mit Kündigung droht und die Familie abrät, reist sie in ihre Heimatstadt, um ihren Vater, ihren „Held“, ein letztes Mal zu sehen. Ein abrupter Entschluss, den sie ohne Abstimmung alleine trifft. Doch als sie ankommt, ist ihr Vater schon tot. Doch einmal ausgebrochen aus ihrem Leben, geht sie nicht sofort wieder zurück, geht zwei Tage einen ihr unbekannten Weg weiter. Sie trifft fremde Männer, hat Sex und prügelt sich und besucht ihre lang gemiedene Mutter. Harper Regan beginnt, ihre Lebenslügen aufzudecken. Bis sie heimkehrt, sich ihrem Alltag, ihrer Familie und den Fragen ihrer pubertierenden Tochter stellt.

 

Schmetternde Dialoge einander vorbei

Bettina Jahnke reduziert das Stück auf seine wesentlichen Gedanken: Wer bin ich, was will ich und was will ich sehen? Wegsehen und Runterschlucken macht den Alltag leichter. Für eine gewisse Zeit. Aber was im Inneren brodelt, mag irgendwann nach außen dringen. Ein wenig Kulisse, kaum Musik, nur in den szenischen Pausen. Kahle, weiße Treppenstufen, die sich zum Hügel auftürmen; dahinter Eisberge im Meer. Eiszeit. Wenig drum herum. Das Stück baut sich aus Worten. Bohrende Ansagen und Dialoge. Satz für Satz dringt der Zuschauer tiefer ein, in Harpers Welt, in ihre Gedanken und in ihre Vergangenheit. Ein Familienidyll zu Anfang: Sarah, Harpers 17-jährige Tochter, übt mit ihrem Vater Seth für die Geographieprüfung. „Ein Gletscher ist eine riesige Masse aus Eis, welche sich eigenständig bewegt. Jedes Jahr legen sich neue Schneeschichten über die vorherigen und komprimieren sie. Sobald die komprimierte Eismasse eine kritische Dichte erreicht hat, wird sie so schwer, dass die Fließbewegung einsetzt“, erklärt Sarah und ist mitten in der Geschichte. Wie Eisblöcke bewegen sich Stephens Figuren durchs Geschehen. Ihre Konsistenz und Funktionalität bestimmt ihren Schritt. Sie sind unfähig, sich zu artikulieren. Sie können nicht sagen, was ihnen fehlt. Sie können sich nicht treffen, nicht wahrhaft begegnen und gleiten aneinander vorbei. Die Figuren, sie können sich nicht befreien. Das ist die Aufgabe des Zuschauers in Simon Stephens Stück.

Bedachte Distanz

Wenig plakativ und sehr behutsam enthüllt Bettina Jahnke das Schicksal einer Frau, die in ihrem Leben auf der Flucht zu sein scheint, die sich dem Leben nicht stellt, auch nicht entgegenstellt. Linda Riebau gibt überzeugend eine Harper Regan, die in Kühle und Disziplin ihr Leben meistert. „Komisch, es kommt so unvermittelt“, erklärt sie ihrer Tochter. „Wenn man am wenigsten damit rechnet, ist man alt.“ Sie hält den Zuschauer auf Distanz, bricht nur vereinzelt, in schmalen, tiefen Spalten auf, um schnell die Fassung wiederzugewinnen. Ob es Harpers persönliche Stärke oder ihre Verzweiflung ist, das lässt sich nicht dingfest machen. „Ich weiß, du willst von mir wissen, wie man sein Leben lebt“, sagt sie zu Sarah. Doch Patentlösungen gibt es nicht. Nicht hier. Nicht im Leben. Gesicherte Antworten bekommen weder Sarah noch die Zuschauer. Vielmehr einen Spiegel vorgehalten. Probleme, die gibt es. Unsicherheiten, auf allen Seiten. Aber auch Chancen flackern durch. Und Hoffnung. Am Ende ist Harper wieder zu Hause. Etwas hat sie mitgenommen von ihrer Reise, ein wenig davon hat sie erzählt. Mut hat sie, sich dem Leben zu stellen. „Das einzige, was wir wissen, ist, das wir gar nichts wissen.“ Und das ist ihr ein Ansatz.

(Nähere Infos unter www.rlt-neuss.de)