RLT-Projekt „Im Schlaraffenland“: Weizensäcke gegen Katastrophen

14. Februar 2018 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Hähnchen, die gebraten durch die Luft fliegen – auch direkt in den Mund. Flüsse aus Wein und Bäume voller Brötchen. Dazu Brunnen, gefüllt aus reinem Champagner. Ludwig Bechsteins Beschreibungen des Schlaraffenlands dienen dem RLT-Rechercheprojekt von Carolin Millner als Anstoß. Anfangs unter Weizensäcken begraben, begeben sich drei Akteure auf Durchleuchtungskurs zum Thema Ernährung, Gesundheit und Existenz. Doch vom Paradies der Gaumenlust entfernen sie sich schnell, durchwandern Fertigprodukte und Billigpresswurst, um über Wert und Absicherung beim Katastrophenschutz zu enden. Eine pfiffige Inszenierung auf selbst entwickeltem Textgerüst, die viele Fragen in den Raum stellt; und sie gekonnt hallend in diesem kreisen lässt.

Wer findet wo sein Schlaraffenland? In Bechsteins Wonnereich gilt die Faulheit als höchste Tugend. Essen und Trinken in Hülle und Fülle, ein Traum der Menschheit, einer der Glückseligkeit. Doch hier und heute weiß man es besser. Oder auch nicht. Was passiert, wenn alles im Überfluss vorhanden ist? Eine Frage, die sich die aktuelle Studio-Inszenierung des Rheinischen Landestheaters stellt. Geschaut wird auf unsere wohl gespeiste zivilisierte Industrienation. Genug für alle, alles vom Feinsten und gerecht verteilt. – Ist das so?

Der Blick aufs Naheliegende ist der Ausgangspunkt der Betrachtung: Neuss, eine gutsituierte Stadt am Rhein. Die Lage am Wasser und die fruchtbaren Böden lassen die Gegend nicht nur in einem idyllischen Licht erscheinen, sondern gewähren der Stadt noch Wirtschaftskraft. Mit Deutschlands drittgrößtem Binnenhafen gibt es hier einen idealen Umschlagplatz für die in der Region hergestellten oder weiterverarbeiteten Produkte. Und: Neuss sitzt auf einem unsagbar wertvollen Gut – auf rund 8.000 Tonnen Weizen, die im Auftrag der Bundesrepublik in einem geheimen Lager aufbewahrt werden. Katastrophenschutz. In Krisenzeiten soll das Getreide zur Erstversorgung der Bevölkerung dienen. Das ist der perfekte Ansatz für das RLT-Theaterprojekt. Denn das Spielzeitmotto lautet #mäßigung. Das passt zum kritischen Blick aufs Schlaraffenland.

Von Essen und Status, von Ausgrenzung und Privileg

Los geht es in der Inszenierung mit Bechsteins Märchen vom Schlaraffenland, gezeichnet von drei zwischen Weizensäcken steckenden Köpfen. Ein Gedanke an Neuss, an seine Bürger – und an ihre Macht und Möglichkeiten. Doch dann geht es schnell ans „Eingemachte“. Um die Wurst, die keiner mehr vom Tier erwartet, das Essen to go und um fehlende Wertschätzung von Nahrung oder Nahrungsaufnahme. Essen für alle – quadratisch, praktisch, gut. Oder eben nicht. Da werden die Weizensäcke rasch zu Mauern, hinter denen sich die Privilegierten verstecken. Die, die verteilen. Die, die die Regeln festlegen. Klar, jeder kann nicht rein ins „Schlaraffenland“, da sind sich die drei Protagonisten trotz andersartiger Blickwinkel einig. So viel Platz ist auch wieder nicht da.

Essen ist Status. Und Haltung. Auch politische. So kommt man hier raffiniert von dem einen zum anderen. Die oben haben das Sagen. Die unten akzeptieren. Das Problem sei die Mittelschicht, so die Aussage eines „Klardenkenden“. Die Menschen dieser haben fast alles und doch fehlt noch was. Und um dieses eine Fehlende kreisen alle Bemühungen jener Menschen. Das kann gefährlich werden. Da braucht es Regeln. Und Abgrenzungen.

Vom Leben danach

Dann plötzlich heulen die Sirenen. In einem anderen Leben, einem Traum oder einem Paradies finden sich zwei von vorher wieder. Und mit ihnen die brennende Frage: Warum haben sie überlebt, nicht die anderen? – Doch, das war beiden von Anfang an bekannt, es wird immer welche geben, „die auf der Strecke bleiben“. Wer will, der kann. Manchmal aber dann doch nicht. Es ist der Qualm, der die Katastrophen einleitet; aus dem das Feuer entfacht.

Ich habe keinen Bock, dass ich hier der Buhmann bin“, heißt es zum Schluss. Die Szene gleicht einem Schattenspiel. „Es gab ja keine Wahl.“ – „Wir hätten mehr Informationen gebraucht“, meint sie. „Ach was, wir hatten doch zu viele“, kontert er. Die mündige Bürgerschaft, von der anfangs die Rede war, ihr Sinnen ist längst verpufft; ihre Existenz am Ende fraglich. – 20:50 Uhr, und das Stück ist aus.

Im Schlaraffenland“ ist eine kurze, prägnante und ausgeklügelte Inszenierung; eine spannende Collage, gebaut auf Interviews mit Neusser Bürgerinnen und Bürger. Stück für Stück setzt sich ein Ganzes, das sich nahtlos ineinander verwebt. Das Produkt ist kein Flickenteppich, sondern eine planvoll gestrickte, aus sich wachsende szenische Aufarbeitung zum Thema Ernährung, die sich vom Essen konsequent ins Reich der gänzlichen menschlichen Existenz und Berechtigung bewegt. Viele Fragen, diverse Ansätze und verschiedene Betrachtungsperspektiven, die einfallsreich und pfiffig – auch im Bühnenbild – zum Nachsinnen anregen.

Marion Stuckstätte