Keine Chance aufs freie Leben

18. Oktober 2017 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Neusser Musicalwochen zeigen „Spring Awakening“: Sie sind jung, neugierig und liebeshungrig. Woher die Babys kommen, ist nicht bekannt. In Sachen Körpererfahrung und Liebesleben lassen die Erwachsenen ihre Zöglinge im Ungewissen. Drängende Fragen und aufkeimende Gefühle finden keine Antworten oder Erklärungen. „Frühlings Erwachen“ ist eine gesellschaftskritische Tragödie von Frank Wedekind aus dem Jahr 1891, in der der Dramatiker das Versagen der Erwachsenen gegenüber pubertierenden jungen Menschen und ihren sexuellen Bedürfnissen anprangert. Duncan Sheik (Musik) und Steven Sater (Buch und Liedtexte) haben daraus ein Rockmusical geschaffen, das 2006 mit dem Namen „Spring Awakening“ zur Uraufführung kam. Die Neusser Musicalwochen greifen den Stoff auf und setzen ihn erfolgreich fürs Globe um.

Im Abstand von maximal zwei Jahren finden die Neusser Musicalwochen statt. Sie sind zur Förderung von Nachwuchstalenten ins Leben gerufen worden, in Koproduktion der Musikschule und der Schule für Kunst und Theater der Stadt Neuss. Durch sie erhalten junge Musiker und Darsteller die Chance, unter professionellen Bedingungen an einem Musical mitzuwirken. Bestehen die Interessenten das Auswahlverfahren, so werden sie kostenlos in Gesang, Tanz und Schauspiel unterrichtet und dürfen ihre ersten Erfahrungen unter der Anleitung von Profis auf „großer Bühne“ machen. Gleichzeitig erleben sie den Probenalltag, auch die extremen Anstrengungen und Anforderungen. Nicht wenige nutzen dies, um sich auf eine künstlerische Berufslaufbahn vorzubereiten.

Seit 1995 arbeiten beide Institute im Bereich Musiktheater zusammen. Bereits 18 Produktionen sind gelaufen, unter ihnen beliebte Stücke wie „Der kleine Horrorladen“, „Jesus Christ Superstar“, „Die drei Rätsel“ und „Oliver!“. Nach der gelungenen „Fame“-Inszenierung“ 2015, die ebenfalls schon die Probleme von jungen Erwachsenen thematisierte, nun 2017 kein weniger populäres Musical. Denn „Spring Awakening“ hat weltweit abgeräumt. Allein acht Tony Awards (Theateräquivalent des Oscars) spielte die Produktion am Broadway ein. Die Musik brachte obendrein noch einen Grammy für das beste „Musical Show Album“. Keine leichte Herausforderung für die Schüler zwischen 17 und 21 Jahren. Aber ihr Respekt hält sich in Grenzen – zu Recht. Denn die „Auserwählten“ zeigen auch in diesem Jahr, was für großartige Akteure sie sind. Viele Monate haben sie hart unter der Anleitung von Regisseur Sven Post, der musikalischen Hand von Edwin Schulz und der Choreografie von Tanja Emmerich gearbeitet. Das Ergebnis ist allemal sehenswert.

Durch Tabuisierung mit Latein des Lebens am Ende

Die Geschichte: Melchior ist einer der wenigen, der schon etwas in Sachen Sexualität in Erfahrung bringen konnte. Er hat durch seine hartnäckigen Recherchen und seinen Scharfsinn eine Aufklärungsschrift verfasst, in der zumindest eines schon klar ist: Die Babys kommen nicht vom Storch. Aber damit ist er seinen Mitschülern weit voraus. Wendla bittet ihre Mutter schon seit langem, ihre drängenden Fragen über Körper und Liebe zu beantworten. Aber diese schweift stets ab, wagt nicht offen von „unsittlichen Dingen“ zu sprechen. Sexualität ist tabu. Die Erwachsenen selbst unreif und so meidet man das „obszöne Laster“. Auch sonst hält die Obrigkeit die Heranwachsenden dumm, verlangt Gehorsam ohne Aufklärung. Dort, wo sich Widerstand und Forschergeist ausbreitet, begegnet man den Zöglingen mit Rohrstock und Züchtigung. Eine gestrenge Sexualmoral, die an Anstand zu wünschen übrig lässt. Nicht nur hinter verschlossenen Türen, wenn die „Respektsperson“ sich an der Tochter vergreift.

So kommt es, wie es nicht kommen soll. Melchior verführt Wendla. Sie wird ahnungslos schwanger und von der Mutter zur illegalen Abtreibung beim Kurpfuscher geschleppt. Und stirbt an den Folgen. Melchior muss in die Erziehungsanstalt. Sein Freund Moritz erschießt sich gleich selbst, da er sich unverstanden fühlt, von den Lehrern als schlechter Schüler gemoppt wird und mit seinem „Latein“ am Ende ist – dem Latein des Lebens.

Eine berührende Geschichte, ein Thema, das wenngleich in Sachen Sexualkunde in aufgeklärten Ländern nicht auf dem Punkt der Zeit ist, aber doch über verknöcherte Missstände und Dogmatismus viel zu berichten weiß. Zwar hätte man sich noch gewünscht, dass die Liebesszene ausgereifter rüberkommt, Liebe nicht mit Sex gleichgestellt wird oder die Kostüme der Mädchen nicht im kecken Mix aus alter Uniform und sexy Britney Spears-Look fehllenken. Aber das verleiht der ansonsten tollen Produktion, die besonders nach der Pause zu Hochform aufläuft, keinen massiven Abbruch. Erstaunlich immer wieder auf welch hohem Niveau die Jungdarsteller unterwegs sind. Chapeau! – Auch für die enorme Leistung der Band. Ein gelungenes Projekt, das im Umland seinesgleichen sucht. Wer es auf die Bretter der Welt schaffen möchte, findet hier ein prima Sprungbrett.

(Weitere Informationen über alle Produktionen der Musicalwochen unter: http://www.neusser-musicalwochen.de. Heranführende Kurse zudem im Kulturforum Alte Post, Schule für Kunst und Theater, www.altepost.de.)

Marion Stuckstätte