„Die Seele schleift im Schmutz“ im Theater am Schlachthof : Denken kostet nichts – bereichert nur

2. Oktober 2017 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Die Auftaktveranstaltung der diesjährigen Neusser Themenwoche bildete ein literarisch-musikalischer Abend zu Henry David Thoreau im Theater am Schlachthof. Seinem Gedankengut nachzuspüren und es auf heutige Zeit zu spiegeln, ist einen Theaterbesuch wert. Er war ein Vordenker in Sachen mutiger Gesellschaftskritik. Er nahm sich das Recht, aus der Reihe zu treten, Allgemeingültiges zu hinterfragen, marode Strukturen anzukreiden – und abzulehnen. Einer auf der Suche zum Menschsein. Einer, der zum Inbegriff des zivilen Ungehorsams wurde. Seine klugen Ansätze und tiefsinnigen Überlegungen nahmen viele nach ihm auf, um Widerstand zu leisten. Martin Luther King gehörte zu ihnen, genauso wie Mahatma Gandhi. Im TAS kann man seinen Reflexionen derzeit auf unterhaltsame, anregende wie humorvolle Art begegnen.

Gegen den Strom“ hieß die Neusser Themenwoche vom 9. bis 16. September, die mit der Premiere „Die Seele schleift im Schmutz“ begann und mit der Kulturnacht endete. Hochgucken, aufmerksam sein, nicht dumpf mitlaufen – sehen was in der Welt passiert und im Umfeld. Denken nicht ausschalten. Fragen stellen, auch nicht. Und obendrein den Mut finden, mal „nein“ zu sagen, auszuscheren und sich gegen Missstände aufzulehnen. In dieser unserer Zeit sind gesellschaftliche Aufmerksamkeit, Hilfsbereitschaft und Gemeinschaft nicht die Schlagworte, um Zuspruch zu finden. Viele sind sich selbst am nächsten und damit genug ausgelastet – gar überlastet. Drumherum, das macht vielleicht Angst. Innendrin fehlt aber oft die Stabilität. Trump, Kim Jong-un und Le Pen im Ausland und in Deutschland wachsender Einfluss rechtspopulistischer Ideen und Parteien, die sich im Nährboden der allgemeinen Politikverdrossenheit hochzüchten: Wo geht das hin?

Da wird es wichtig, nicht vor sich hin zu trotten, sondern wachsam und nachdenklich zu sein. „Gegen den Strom“ passt da gut. Denn das ist eine Option, die nicht mehr weit verbreitet ist und allgemeinhin schnell abwertend beurteilt wird.

Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.“ Mit diesen Worten soll Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms 1521 den geforderten Widerruf seiner 95 Thesen zurückgewiesenen haben. Mit seinen Thesen über christliches Handeln und gegen das Ablasswesen der damaligen Zeit, die er 1517 erstmals in Wittenberg veröffentlichte, hatte Luther einen akademischen Disput über den Zustand der Kirche herbeiführen wollen. Damals ging es Luther um die Rückbesinnung auf das Evangelium. Heute geht es um die Schärfung des Blickes für gesellschafts- und kulturpolitische Entwicklungen, die über den akademischen Disput hinausgehen. Eine eigene Meinung zu haben, diese aus fester Überzeugung gegen Widerstände zu vertreten, erfordert Reflexion und Zivilcourage.

Individuum sein und Fragen stellen

Die Themenwoche der Neusser Kultur- und Bildungsinstitute hinterfragte manche Norm unseres Handelns. Im TAS läuft der „Denkanstoß“ mit Bertolt Kastner und Marlene Zilias, unter der Regie Wolfgang Wirringas, noch im Oktober und November. Hier trifft eine junge, strebsame Musikstudentin beim Straßenmusizieren auf einen „Obdachlosen“. Zumindest scheint es so. Dieser entpuppt sich in der eher zufälligen Begegnung, dann aber anregenden Konversation, als Aussteiger und Querdenker. Sie tauschen sich aus, über Alltag, den Sinn des Lebens, über Werte, Normen und Verpflichtungen – und über das Menschsein an sich. Die Grundlage hierzu bilden Auszüge aus Thoreaus Schriften, die der alte Mann bei sich und in sich trägt. „Der Mensch sollte nicht alles tun – aber etwas“, sagt er. Sie ist anfangs nur „wütend und hilflos“, macht zur Beruhigung ein Selfie vor skurriler Kulisse, den wenigen Habseligkeiten des Mannes auf einem Karren. Sein Urteil ist deutlich: „selbstfotografiertes Ebenbild als narzisstisches Zeichen unserer Zeit“. Denn das Buch, von dem er berichtet, 160 Jahre ist es alt, treffe Verstand und Herz und glänze nicht sinnlos an der Oberfläche. „Mensch oder Maschine“, das sei am Ende die Frage. So wundere es ihn, dass der Mensch heute mehr um seine modische Kleidung bedacht sei, als über ein reines Gewissen. Er sehe es anders: „Je mehr Dinge der Mensch besitzt, desto weniger hat er.“

So begibt sie sich auf die Suche nach dem eigenen Weg. Der, der sich gut anfühlt, aus einem selbst kommt und nicht nachahmt oder anstrebt, was andere wollen und schätzen. Um Ruhe zu finden. Selbst gestalten statt leiten lassen. „Ich wollte kein Leben leben, was eigentlich keins ist“, sagt der Mann. Und dann spielt sie wieder Violine. Aber anders…

Ein anregender Abend. Fühlende Musik und überzeugende Interpreten, die „gegen den Strom an die Quelle“ führen. Hingehen lohnt!

Marion Stuckstätte