„Jenny Jannowitz“ im Rheinischen Landestheater: Der Wahnsinn „rastloser Alltag“ im Spiegel absurd aufpoliert

3. Mai 2017 | Von | Kategorie: Aktuelles, Neusser Kultur

Er ist gehetzt, arbeitsoptimiert – ein Zeitopfer. Er ist der Prototyp des modernen Menschen. Ein Selbstausbeuter, der seinem Leben hinterherhechelt. Sie ist – anders. Ein schwarzer Engel; ein Wesen mit eigenem Rhythmus, das sich nicht moderner Hektik unterwirft. Sie treffen aufeinander in dieser skurrilen Geschichte des Gegenwartsautors Michel Decar, die derzeit im Rheinischen Landestheater zu sehen ist. Eine geistreich bizarre, surreal übersteigerte Darstellung über den Irrsinn der Beschleunigung einer globalisierten Welt. Über allzeit flexible Menschen. Über ein Dasein mit stetigen Wechseln, ob in der Familie, in Beziehungen, ob im Job oder im Zuhause. Der getaktete moderne Alltag wird zum traumatischen Irrgarten. Das Leben zur Farce. Kann man hier noch einen ernst nehmen – oder nehmen sich alle selbst zu ernst? 

Als Karlo Kollmar aufwacht, hat er gerade einen ganzen Winter verschlafen. Und das, obwohl Schlaf absoluter Luxus ist. An seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt, kann er diesen kaum wiedererkennen. Die Dinge sind verändert: Hektik, Druck und Stress scheinen sich verflüchtigt zu haben. Alles läuft bestens. Keiner hat ihn vermisst und alle sind zufrieden; allerdings sind sie auch nicht mehr wie früher, noch dingfest zu machen. Sein Chef möchte lieber sein Kumpel sein, als Anweisungen zu erteilen. Seine Mutter mag nur noch mit Vornamen angeredet werden, sein bester Freund entwickelt sich zum Widersacher – und seine Freundin heißt mal Sibylle, Sabynne oder Sabine. 

Nun gut, sich auf Neues einzustellen, gehört zum modernen Menschen. Drum wirft es Karlo nicht gleich aus der Bahn. Flexibilität ist das Zauberwort der Zeit. Nur mag sich hier nichts und niemand mehr an einer bestimmten Ordnung oder nach vorhersehbaren Regeln orientieren. Obwohl dem jungen, aufstrebenden Kollmar vermeintlich alle Möglichkeiten offenstehen, gibt es eigentlich keine Wahl. Und trotz seiner willig aufmerksamen und reaktionsschnellen Anpassung ist es so, als ob er ständig etwas verpasst. Seine Verwirrung schreitet mehr und mehr voran. Alle Koordinaten sind verschoben. Wie ein verstörtes gehetztes Tier rast er durch sein Leben; perplex wie richtungslos. Bis Jenny Jannowitz auftaucht. Immer wieder; und völlig anders als alle anderen. Ein schwarzer Engel aus einer anderen Welt. Mit eigener Zeittaktung und einer völlig anderen Sicht auf die Dinge.

# Schnelllebigkeit – die Antwort: Exit

Ein wahrhaft schwindelerregendes Stück hat Michel Decar da über den alltäglichen Wahnsinn einer modernen Welt geschrieben (Uraufführung 2014 bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen). Grotesk gar komisch mag es dem außenstehenden Betrachter erscheinen, der sich, wenn nicht gerade im Theatersitz gesichert, genauso mittendrin wiederfinden könnte. Den Kleist-Förderpreis hat der 1987 in Augsburg geborene, an der LMU München und an der UDK Berlin studierte Autor für diese philosophische, dialogstarke und sich im Tempo überschlagende Tragikomödie verdient gewonnen. Seine Stücke sind schon beim Lesen derart faszinierend, dass es eine Herausforderung ist, ihnen auf der Bühne die erforderliche Präsenz zu verleihen. Ein ums andere Mal hat man dies schon erlebt.

Auch im RLT gab es zwei Anläufe. Vom ersten Regieteam um Franziska Marie Gramss trennte man sich noch während der Inszenierungsphase. Die „Nachrücker“, Regie Nicole Erbe (unter Schützenhilfe der Hausherrin Bettina Jahnke), übernahmen nur das Grundkonzept und variierten; wie und woran, das hätte man gern im Vorher-Nachher-Vergleich gesehen. Die Verwirrung ist gekonnt gesetzt, Menschen wie geklonte Witzfiguren, die zu Einheitswesen mutieren und wie bösartige Zellen Kollmar zu Leibe rücken. Ein Bakterienbefall als tödliche Bedrohung. Was sich zeigt, hat überaus gelungene Ansätze, hätte aber gut noch reifen können. Mit plüschiger Verzierung, musikalisch berieselt und unter Sternenglanz gesetzt, vernebelt sich die Sicht und rutscht der zweite Teil ins Triviale. Da ziehen sie dahin, Jenny und Karlo, Hand in Hand dem „Himmelszelt“ entgegen. Bis sie ihn auf den gelenkten Weg entlässt. Und die Geschichte am Ende ist.

Marion Stuckstätte

(Nähere Infos unter http://www.rlt-neuss.de)