Einblicke in eine fremde Realität

2. Oktober 2015 | Von | Kategorie: Neusser Leben

Bildende Künstlerin eröffnet demenzkranken Menschen neue Wege der Selbstwahrnehmung.

Wo Erinnerungen und Worte versagen, bietet künstlerisches Gestalten einer Gruppe von Demenzkranken die Möglichkeit zu Kontakt, Ausdruck und Selbstbestätigung.

Seit März 2015 trifft sich im Heinrich-Grüber-Haus in Neuss eine kleine Gruppe von stationären Demenzpatientinnen unter Leitung von Sibyll Rautenberg zum gemeinsamen Malen und Zeichnen.

Frau Rautenberg arbeitet seit über 30 Jahren im kunstpädagogischen Bereich. Grundlagen hierfür sind neben einem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf eine Fortbildung zur Tanzpädagogin und eine umfangreiche Ausbildung zum Coach. Wie ein Zeitbogen verläuft Ihre künstlerische Arbeit mit Menschen von der Arbeit mit Kindern über die Erwachsenenbildung bis hin zur künstlerischen Arbeit mit Menschen, die an einer Altersdemenz leiden.

Die Idee und das daraus resultierende Projekt entstanden während eines Workshops, bei dem eine Kinderkunstgruppe Bewohner des Heinrich-Grüber-Hauses portraitierte. Trotz der vielfältigen Angebote des Hauses für seine Bewohner gab es noch keine Erfahrung mit dem Medium der bildenden Kunst. Schnell fanden sich einige Interessierte Frauen und ein wöchentliches Treffen wurde organisiert. Anfangs war da eine große Skepsis beim Anblick der weißen Blätter, eine Angst vor den ersten Pinselstrichen. Es begann ein langsames Herantasten und Kennenlernen zwischen Menschen und Material, zwischen der Dozentin und den Teilnehmerinnen. Für viele war dies Neuland und es dauerte einige Wochen des spielerischen Umgangs mit Materialien und Techniken , bevor auch die Vorsichtigsten sich mit der Materie angefreundet hatten.

Selbst die Dozentin wusste noch nicht, wohin die Reise gehen würde. Die Kommunikation mit Demenzpatienten verläuft krankheitsbedingt oft nicht auf den gewohnten Wegen. Worte sind hier nicht das Wichtigste, vielmehr geht es um Wahrnehmung, Berührung und um eine Offenbarung der oft verschütteten Erinnerungen und Äußerungsmöglichkeiten. Manche Teilnehmerinnen sind in ihren körperlichen und verbalen Möglichkeiten so eingeschränkt, dass es einfacher Hilfestellungen durch die Dozentin bedarf. So hilft sie zum Beispiel beim Pinselausspülen oder beim Anreichen der gewünschten Farben. Die Betrachtung alter Fotografien weckt Erinnerungen und bietet Inspirationen für neue Werke. Leistungsdruck gibt es hier nicht. Die Resultate sind erstaunlich, aus Formen und Farben bilden sich Landschaften, Orte, Wesen und abstrakte Gebilde. Manches hat direkt mit einst gewesenen aus dem Leben der Patientinnen zu tun. Ein Pudel taucht wieder auf, ein Haus, ein Weg. Zarte, reduzierte, ausschweifende und impulsive Kunstwerke entstehen hier, auf Papier, alten Tapeten oder auf Leinwand. Als Abschluss der einstündigen Zusammenarbeit gibt es immer ein sogenanntes Ateliergespräch mit gemeinsamen Betrachtungen, Besprechung und Bewunderungen der entstandenen Werke. Und natürlich wird signiert und ausgestellt, so erhalten Kunstwerke und Künstlerinnen eine wichtige Wertschätzung.

Erstaunlich ist es, wenn Patientinnen, die sonst kaum ein Wort von sprechen, sich plötzlich ganz klar und eindeutig zu Ihren Werken äußern. Auf einmal zeigt sich eine verloren geglaubte Klarheit in Worten oder Gesten. Für Frau Rautenberg ist dies erst der Beginn der Reise. Ihr Ansatz entspricht der pflegerischen Idee der Validation, der Wertschätzung aller Persönlichkeiten und der Akzeptanz anderer Realitäten – vielleicht sogar die Möglichkeit einer Selbst(wieder)findung der Patienten.

Diese Aspekte können das Selbstvertrauen und somit die Lebensqualität von Menschen mit einer Demenzerkrankung erhöhen.

Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass auch im Alter und trotz dieser weit verbreiteten Erkrankung unser Hirn noch lernfähig ist und in der Lage, durch gezielte Ansprache neue Verknüpfungen zu bilden. Insofern ist die Arbeit von Sibyll Rautenberg im Heinrich-Grüber-Haus ein wertvoller Beitrag zu einer positiven, unterstützenden Herangehensweise an das Thema Demenz.